Kein Ende des Lagerkriegs in Sicht

■ Blockade der Beiruter Palästinenserlager auch nach dem syrischen Einmarsch nicht aufgehoben / Syrien setzt politische Prioritäten / Erstmals Lebensmittel für das Lager Chatila / Palästinenser fürchten Vertreibung

Aus Beirut Joseph Kaz

Der Einmarsch syrischer Truppen in Westbeirut hat das Leiden der palästinensischen Bevölkerung in den eingeschlossenen Flüchtlingslagern Chatila und Borj al Brajneh nicht beendet. Auch die teilweise Lockerung der Lebensmittelblockade von Borj al Brajneh, dem ersten Lager, in dem es zu einer Hungersnot kam, hat daran nichts geändert. Es ist der bevorzugte Verbündete Syriens, die schiitische Amal–Miliz, die seit numehr fast fünf Monaten den Palästinensern im Lagerkrieg gegenübersteht. Eine politische Lösung zeichnet sich bisher nicht ab. Offenbar wollen die Syrer zunächst Westbeirut in den Griff bekommen und das Problem der schiitischen Vororte lösen, wo auch die beiden Pa lästinenserlager liegen, ehe sie sich dieser schwierigen politischen Frage widmen. Doch mit seinem Einmarsch hat Syrien PLO–Chef Arafat schon eine erste Niederlage bereitet. Der PLO ist es nun nicht mehr möglich, sich wieder in Westbeirut zu etablieren, was angesichts des erbitterten Widerstandes in den Lagern und eines Bündnisses mit anderen libanesischen Parteien schon in den Bereich des Möglichen gerückt war. Die Ziele der Intervention Syriens stoßen zudem weltweit auf Zustimmung, gleich, ob es sich nun um die Beendigung der Herrschaft der Milizen, die Kontrolle der radikalen schiitischen Hizballah oder eben auch die „Neutralisierung“ des palästinensischen Einflusses im Libanon handelt. Der anhaltende Beschuß der Lager ungeachtet der Stationierung syrischer Truppen rings um Chatila und Borj al Brajneh zeigt, daß es die Machthaber in Damaskus keineswegs eilig haben, dieses Problem zu lösen. Dem widerspricht es nicht, wenn sie sich bemühen, nun den politischen Lohn für die Lockerung der Blockade auf arabischer Ebene einzuheimsen, heißt es dazu in palästinensischen Kreisen. Es wird auch versichert, daß Amal der Entscheidung ihres Chefs Berri vor zehn Tagen, die Blockade der Lager aufzuheben, nur zögernd folgt. Zudem würde etwa die Hälfte der für die Lager bestimmten Lebensmittel und Medikamente von Amal–Milizionären beschlagnahmt. „Die Frauen, denen es gestattet wird, das Lager zum Einkaufen zu verlassen, kann man an einer Hand abzählen. Außerdem werden sie gezwungen, ihre Besorgungen an einem von Amal bestimmten Ort zu machen, wo sie überhöhte Preise zahlen müssen. Die dramatische Situation der 20.000 Bewohner ist noch nicht vorbei“, erläutert ein palästinensischer Gesprächspartner. Das seit drei Monaten umzingelte Lager Chatila ist am Freitag zum ersten Mal mit Lebensmitteln versorgt worden. Einer von drei mit Mehl und Milchpulver beladenen Lastwagen wurde von Amal– Milizionären beschlagnahmt. Nach Angaben des kanadischen Arztes Chris Giannou hatte sich die Versorgungslage in den letzten Tagen erheblich verschlechtert. „Nur unter Schwierigkeiten können wir noch gewährleisten, daß alle 4.000 Bewohner jeden Tag wenigstens eine Mahlzeit erhalten. Wir haben nur noch zerstampften Weizen und einen Rest Linsen und Reis. Das geben wir vorzugsweise Kindern. Die Fälle von Unterernährung nehmen zu“, berichtete der Arzt. Für einen Lagerverantwortlichen von der Al Fatah, der größten Palästinenserorganisation, ist das lange Aussparen Chatilas von den Hilfslieferungen politisch beabsichtigt. Er läßt keinen Zweifel an seiner Einschätzung, daß Amal die Beiruter Palästinenserlager auflösen will und darauf setzt, daß die ausgehungerte Bevölkerung Chatila verläßt, sobald es zu einem Waffenstillstand kommt. „Die Leute, die sich seit Monaten in drei Bunkern zusammendrängen, werden sich schon überlegen, das Lager zu verlassen, wenn die Straßen einmal sicher sind, denn es gibt nur noch zehn bewohnbare Häuser“, meint der PLO–Führer. „Vermutlich wird der Wiederaufbau von Chatila verboten werden, wie auch im Falle des Lagers Sabra, das im Juni 1985 von Amal plattgewalzt wurde. Ungeachtet aller Versprechungen aus Syrien und Iran wurde es nicht wieder aufgebaut.“ Für das Lager Borj al Brajneh geht er davon aus, daß eine Auflösung schwieriger durchzusetzen ist. Die Hälfte der Häuser dort sei immerhin noch bewohnbar. Reibungslos wird die Vertreibung der Palästinenser aus Beirut nicht über die Bühne gehen. Die Ereignisse der kommenden Wochen werden auch die Ausgangsbedingungen auf der nächsten Sitzung des palästinensischen Nationalrats (Exilparlament) Anfang April in Algier bestimmen, wo die verschiedenen Fraktionen erstmals wieder gemeinsam tagen wollen. Dann wird man sich entweder auf die Einheit im Kampf gegen die Vertreibungspläne von Amal beziehen, oder aber, nach einem Fall von Chatila und Borj al Brajneh, auf eine gemeinsam erlittene Niederlage, deren Preis möglicherweise ein neues Massaker wäre, in jedem Falle aber die Verzweiflung der palästinensischen Bevölkerung in Beirut.