„Die Linke ist viel zu ideologisch ...“

■ Interview mit Theo Pirker, einem der wichtigsten Gewerkschaftstheoretiker der Nachkriegszeit, der 65 wird / Der Autor des Standardwerks „Die blinde Macht“ heute: „Eine Arbeiterbewegung gibt es nicht mehr“ / Eine späte Renaissance für den Gewerkschaftsoppositionellen der fünfziger Jahre

Theo Pirker, bis zum Februar dieses Jahres Vorsitzender des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung an der Freien Universität Berlin, wird heute 65 Jahre alt. Pirker war in den fünfziger Jahren ein Repräsentant der innergewerkschaftlichen Opposition und galt als Sprecher der Jugendlichen, die sich nach dem Krieg in den Gewerkschaften engagierten. Zusammen mit Viktor Agartz, dem Wortführer eines Konzepts für einen politisch agierenden gewerkschaftlichen Zentralverband, wurde Pirker in den fünfziger Jahren im DGB kaltgestellt und mußte schließlich das damalige „Wirtschaftswissenschaftliche Institut“ des DGB verlassen. Seitdem gilt er als einer der kompetentesten Gewerkschaftskritiker. Ende der Arbeiterbewegung?! taz: Theo Pirker, zu Deinem 60. Geburtstag erschien ein Diskussionsband mit dem Titel „Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland?“ Meinst Du, die Arbeiterbewegung in Deutschland sei am Ende? Theo Pirker: Das Fragezeichen im Titel ist nicht von mir, sondern von den Herausgebern. Mein Beitrag in diesem Band sagt ganz eindeutig und klar, daß es eine Arbeiterbewegung im klassischen Sinne nicht mehr gibt, und zwar weder in der Bundesrepublik noch in der DDR. Es ist eine ganz seltsame Tatsache, daß große Teile der Gewerkschafter und auch der Sozialdemokraten das nicht einsehen wollen. Ich weiß, daß das, was man in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arbeiterbewegung genannt hat, so nicht mehr existiert. In den fünfziger Jahren hast Du im Zusammenhang mit der Opposition gegen die Wiederbewaffnung das Konzept der Gewerkschaften als „öffentlicher Ver band“ (Gewerkschaftliche Monatshefte Februar 1952) vorgeschlagen. Worin lag die Chance der Gewerkschaften in den fünfziger Jahren? Das Konzept des „öffentlichen Verbandes“ stand nicht nur im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung, sondern auch mit den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung und das Betriebsverfassungsgesetz. Das war eigentlich keine Erfindung von mir, sondern mehr als eine Schlußfolgerung aus den Erfahrungen von 1945 bis 1952 gedacht. Die Gewerkschaften mußten sich, ob sie wollten oder nicht, in alle gesellschaftlichen Bereiche einmischen. Sie haben es nicht getan, und daher rührt das, was ich als einen Verlust des politischen Gewichts der Gewerkschaften bezeichne sowie auch die Unmöglichkeit, in sehr radikalen Aktionen die Arbeiterbewegung nach 1945 wiederzubeleben. Das Trauma vom 2. Mai 1933 Warum haben die Gewerkschaften in den fünfziger Jahren das Konzept nicht aufgegriffen? Sie haben es aus Furcht nicht aufgegriffen. Die ältere Generation der Gewerkschafter, aber auch viele jüngere, lebten in dem Trauma des 2. Mai 1933. Sie glaubten, wenn die Gewerkschaften sich zu einem politischen Streik entschlössen - der „öffentliche Verband“ ist ja nicht nur eine Theorie, sondern verbunden mit gewerkschaftlichen Aktionen -, würden sie erneut zerschlagen werden und müßten die Kassen abliefern. Das war natürlich historisch völlig unsinnig. Läßt sich das Konzept auf heute übertragen? Nein. Man kann nicht Konzepte für eine so große Organisation entwickeln ohne Rücksicht auf die Konstellationen und die politische Lage, die Aufgaben etc. In Gewerkschaften und SPD sind heute noch eine große Anzahl von Funktionären tonangebend, die damals und heute als Hitlerjugend–Generation bezeichnet werden. Du gehörst selbst zu der Generation der Frontsoldaten. Konnten und wollten die, besser Ihr, nach 1945 überhaupt Politik machen, oder hattet Ihr die Nase voll? Wir hatten die Nase so voll, daß wir eben Politik machen wollten. So einfach ist das. Wenn man an einem so großen Krieg teilgenommen hat, mit all den schrecklichen Taten und vor allem Untaten, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ziehe ich mich in meine Privatheit zurück, oder ich nehme das, was die Republik betrifft, ernst. Dazu waren wir von Anfang an entschlossen. Linke Tabuzonen In der Linken innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften gelten Deine Bücher „Die blinde Macht“, „SPD nach Hitler“ und „Die verordnete Demokratie“ als Standardwerke. Trotzdem hat es in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren keinen intensiven Dialog mit Dir gegeben. Warum nicht? Das liegt daran, daß man in diesen Zeiten, die Du ansprichst, an die konzeptlose, pragmatische Lösung aller gesellschaftlichen Probleme glaubte. Sei es unter dem Motto der Abnabelung der Arbeiterbewegung vom Marxismus oder sei es wegen der riesigen Mittel, die man hatte, um alle möglichen Reformversuche finanzie ren zu können. Da erschienen meine Bücher unwichtig. Da möchte ich noch bemerken, daß diese sogenannten Standardwerke von mir, von denen Du gesprochen hast, in wichtigen Entwicklungen innerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften überhaupt nicht ernst genommen wurden. Finanziell und verlegerisch war die Herausgabe dieser sogenannten Standardwerke ein Mißerfolg, es erfolgten Raubdrucke, und erst nach einer Neuauflage bin ich wieder ins Gespräch gekommen. In der Linken bist Du wohl als politischer Soziologe, nicht aber als Industriesoziologe und Journalist bekannt. Widersprechen Deine industriesoziologischen Erkenntnisse aus z.B. „Arbeiter, Management, Mitbestimmung“ (1955) oder „Schreibdienste in obersten Bundesbehörden“ (1981) so sehr linkem und gewerkschaftlichem Konsens? Ja. Beide Untersuchungen hatten im Grunde genommen Ergebnisse, die weder Linken noch Rechten gefielen. Bei „Arbeiter, Management, Mitbestimmung“ z.B. war es die Tatsache, daß man unserer Meinung nach Mitbestimmung nicht auf den oberen Etagen aushandeln, sondern möglichst viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Mitbestimmung beteiligen sollte. Linke auf Tauchstation? Im Zusammenhang mit der Krise der noch gewerkschaftseigenen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen wirkt die innergewerkschaftliche Linke ratlos. Sie befindet sich auf Tauchstation. Woran liegt das? Ist eine basisdemokratische Erneuerung der Gewerkschaften nicht notwendiger denn je? Mit der Basisdemokratie habe ich noch nie etwas im Sinn gehabt, von daher kommt es meiner Ansicht nach zu einer Erneuerung der Gewerkschaften. Aber die andere Frage ist die mit der Tauchstation. Sie sind nicht auf Tauchstation, sie sind weg. Seitdem der Skandal mit der Neuen Heimat publik geworden ist, erfüllt mich mit großem Erstaunen, daß ein solcher Skandal von den Linken in den Gewerkschaften überhaupt nicht als strategische aufklärerische Möglichkeit angenommen wurde. Dies liegt an einer falschen Solidarisierung der Kolleginnen und Kollegen, die sich innerhalb der Gewerkschaften als links bezeichnen, mit der Organisation. Das ist ein altes deutsches Übel. Außerdem glaube ich, daß die Linke insgesamt viel zu stark ideologisch verhaftet ist und deswegen keine Antworten gibt auf konkrete Probleme dieser Gesellschaft. In welchen Bereichen müßten denn diese Antworten gesucht werden? Ja, das ist ein altes Problem. Ich weiß, daß ein Teil der Linken seit einigen Jahren auf die grünen Antworten starrt. Ich gehöre nicht dazu. Im Gegenteil, ich habe die Grünen immer als eine Bewegung gesehen, die Fragen stellt und Antworten gibt (im Gegensatz zu Biedenkopf). Das Problem ist aber ja nicht, ob man Fragen stellt und Antworten gibt, ob man Rathäuser und Kabinette mitbesetzt. Die Fragen müssen schon ein wenig weiter gestellt werden, historisch weiter. Die Grünen haben keinen Entwurf für eine zukünftige Gesellschaft. Die Probleme, die von den Linken in den Gewerkschaften vor allem debattiert werden, sind im Grunde nur Restbestände aus der alten Arbeiterbewegung. Es gibt eine Fülle von Fragen, mit denen eine linke Politik sich profilieren könnte, an denen sie sich vielleicht sogar organisieren könnte, aber dann muß sie weg von den alten Themata wie z.B. Basisdemokratie. Schon alleine deswegen, weil bei den Kolleginnen und Kollegen, die ihr in den Gewerkschaften anhängen, immer die Funktionärskader eine Rolle spielen und spielen müssen. Solange die Linke keine Kader hat, wird sie in dieser Gesellschaft, aber auch in einer anderen nichts bewirken. Herzlichen Glückwunsch zum 65. Geburtstag wird aber Zeit, von mir auch, d. s–in Das Gespräch führten Martin Jander und Rainer Maischein