Gorbatschow bringt die NATO–Staaten in Zugzwang

■ Verhandlungen über Abbau von Mittelstreckenraketen soll von anderen Abrüstungsbereichen wie SDI abgekoppelt werden / Europäer begrüßen Angebot / US–Regierung will eigenen Vorschlag unterbreiten

Berlin (afp/wps/taz) - In ersten Reaktionen begrüßten Regierungsvertreter in Bonn, Brüssel und Tokio den sowjetischen Vorschlag vom Samstag, die Verhandlungen über den Abbau von in Europa stationierten Mittelstreckenraketen von den anderen großen Abrüstungsfragen zu trennen. Mit dem überraschenden Angebot gab der Gorbatschow seine im Oktober bei dem Treffen mit Reagan in Reykjavik vorgebrachte Forderung auf, daß alle Aspekte der Abrüstungsverhandlungen miteinander verknüpft bleiben müßten. In Reykjavik seien beide Seiten übereingekommen, innerhalb der nächsten fünf Jahre alle ihre Mittelstreckenraketen aus Europa abzuziehen, hieß es in der Rede Gorbatschows. Sobald die Supermächte darüber eine Vereinbarung unterzeichnet hätten, werde die Sowjetunion in Absprache mit der DDR und CSSR ihre in beiden Ländern als Antwort auf die Pershing II– und Cruise–Raketen stationierten atomaren Kurzstreckenraketen abziehen. Die UdSSR halte es jedoch auch bei gesonderten Verhandlungen über Mittelstreckenraketen für wichtig, daß ein Abkommen über eine bedeutende Verringerung und Abschaffung der strategischen Atomwaffen erzielt werde, erklärte Gorbatschow. Wie er wiederholt betont habe, hänge ein solches Abkommen von der Entscheidung ab, daß die Weltraumrüstung verhindert werde. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar Seite 4 Diese beiden Fragen blieben weiterhin verknüpft. Die USA seien jetzt aufgefordert, diese „epochemachende Gelegenheit“ nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. In einer ersten Stellungnahme kündigte das Weiße Haus einen eigenen Vorschlag zur Beseitigung der Mittelstreckenraketen in Europa an. Pentagon–Vize Perle bezeichnete den Vorschlag als kon struktiven Schritt, machte jedoch deutlich, daß bis zum Abschluß eines Abkommens noch geraume Zeit vergehen könne. Er erklärte, vor allem die Lösung des Kontrollproblems nehme viel Zeit in Anspruch. Rüstungsexperten zufolge ist es auch nicht klar, ob der Kreml beispielsweise die amerikanische Forderung akzeptiert habe, daß die USA die ihnen verbleibenden 100 Mittelstreckenraketen in Alaska stationieren. Von dort könnten sie wichtige Punkte in der Sowjetunion erreichen. Außenminister Genscher begrüßte das Angebot Gorbatschows. Es entspräche deutschen Forderungen und europäischen Sicherheitsinteressen. Der Durchbruch bei den Verhandlungen über Mittelstreckenraketen könne sich auch positiv auf andere Bereiche auswirken. Die DDR unterstützte Gorbatschows Angebot und erklärte, daß die dort stationierten atomaren Kurzstreckenraketen sofort abgezogen werden könnten, falls sich die Supermächte in Genf darauf einigten. mf