B U C H T I P Keine Zukunft für Lateinamerika

■ Der zehnte Band des Jahrbuchs „Lateinamerika“ sieht fast nur düstere Perspektiven / Der Halbkontinent ist vom „verschuldeten Kapitalismus“ zum „Verschuldungs–Kapitalismus“ übergegangen / Agrar– und Industrieexporte bieten keinen Ausweg aus dem wirtschaftlichen Niedergang / Ein Bruch mit dem internationalen Finanzsystem bleibt unwahrscheinlich

Hierzulande, in den Metropolen, birgt die Vorstellung von Zukunft meist eine Hoffnung auf die prinzipielle Lösbarkeit der gesellschaftlichen Probleme. Die Einsicht, daß es für solche Hoffnungen in Lateinamerika, in der „Peripherie“, keinen Grund gibt, vermittelt der zehnte Band des Jahrbuchs „Lateinamerika - Analysen und Berichte“, der zum Jahreswechsel erschienen ist. „Aussichten auf die Zukunft“ - so lautet der Untertitel, und der Inhalt läßt nur den Schluß zu: Es gibt gar keine. Bereits der erste Artikel ist einer von der Sorte, die man nicht so leicht vergißt. Selbst Lateinamerikakennern dürfte selten so eindringlich der Mangel an Auswegen vor Augen geführt worden sein wie in Michael Ehrkes Beitrag „Jenseits der Verschuldungskrise. Überlegungen zur wirtschaftlichen Zukunft Lateinamerikas“. Die Entwicklung durch nachholende Industrialisierung hat sich als Sackgasse herausgestellt, und Ausdruck dieses Irrwegs ist die Verschuldungskrise, sagt Ehrke. „Sie zeigt an, daß unter den gegebenen weltwirtschaftlichen Bedingungen die kapitalistische Industrialisierung für viele Länder keine realistischen Perspektiven mehr bietet.“ Im Gegensatz nämlich zu den Industrialisierungsmodellen etwa Südkoreas oder Taiwans, wo während einer günstigen weltwirtschaftlichen Konjunktur neue Produktionskapazitäten errichtet wurden, versucht Lateinamerika, Exportüberschüsse kurzfristig mit dem bestehenden Produktionsapparat zu erzielen. Da bleibt nur, den traditionellen Export von Rohstoffen, Agrarprodukten und einfachen Industrie gütern zu steigern. Seit langem jedoch fallen die Rohstoffpreise, und einige Märkte wie Bananen oder Zucker sind schon zusammengebrochen - wegen eines Überangebots und weil sich die lateinamerikanischen Länder noch gegenseitig Konkurrenz machen. Statt abzunehmen, hat der Schuldendruck zugenommen. Ehrke umreißt einen grundlegenden Wandel: Der bisherige „verschuldete Kapitalismus“, in dem die finanzielle Abhängigkeit von außen ein Begleitphänomen ist, wird zum „Schuldendienst–Kapitalismus“, in dem „sämtliche ökonomischen Variablen dem obersten Ziel der Bedienung der Auslandsschuld angepaßt“ werden. Noch ein neues Verhängnis zieht herauf. Das exportorientierte Modell Lateinamerikas gründete sich auf einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil: die billige Arbeitskraft. Doch die arbeitsplatzsparende Mikroelektronik verringert diesen Vorteil immer mehr. Den Anschluß an den Markt zur Entwicklung dieser Technologien finden diese Länder jedoch auch nicht. „Für Länder, die erst dabei sind, von der Importsubstitution zu einer exportorientierten Strategie überzugehen, könnten die neuesten Entwicklungen jede weitere Chance der Integration in den Weltmarkt blockieren.“(Ehrke) Die politischen Folgen der Zwangslage sind erheblich. So zerfallen in vielen Staaten die wirtschaftlichen und sozialen Institutionen, der durch die Verschuldung ausgeübte Druck auf den Staat wird zum einzigen „Band..., das Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhält“. Unter Verweis auf die Chile–Ana lyse von Urs Müller–Plantenberg im vorangegangenen Band des Jahrbuchs ( Nr.9) sieht Ehrke in der Entwicklung dort ein Negativmodell für weitere Länder Lateinamerikas: Solange der Staat „die nationale Integrität bewahren kann, wird er gezwungen sein, die wirtschaftlich–soziale Desintegration durch die Desintegration der Mehrheit von Ausgeschlossenen zu ergänzen und ein der Apartheid ähnliches Gesellschaftssystem auf– und auszubauen, das die Ausgeschlossenen in eigene Territorien und Rechtsverhältnisse verbannt.“ Eine Lösung innerhalb des „Schuldendienst–Kapitalismus“ gibt es für Ehrke nicht. Bereits begrenzte Reformen trügen das Risiko eines offenen Bruchs mit dem internationalen Finanzsystem. Politische Kräfte, die ihn in Kauf nähmen, sind bislang nicht in Sicht. Wenn überhaupt jemand, dann wäre es nicht die in Lateinamerika derzeit schwache Linke, sondern vielmehr populistische Organisationen. Sie würden ihre Unterstützung bei den Massen suchen und besonderen Wert auf eine nationalistische Lösung legen. Das Jahrbuch ist in einen analytischen Teil unter dem Leitthema „Zukunft“ sowie neun Länderberichte gegliedert. Ehrkes Untersuchung wird von einer sehr informativen Studie über die Schwierigkeiten der Ernährungssicherung in Lateinamerika ergänzt. Die Aautoren Barraclough und Utting stellen die Ergebnisse einer Untersuchung über Mexiko, Nicaragua, Chile und Bolivien vor, die sie für die UNO durchgeführt haben. Danach bestehen Chancen für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung bei den ärmeren Schichten nur, wenn diese auch organisiert in solche Entwicklungsprogramme einbezogen werden. Die Ernährungsdefizite werden allerdings auch durch die zunehmende Umweltzerstörung vergrößert. Sieht man einmal von der diese Lateinamerika– Jahrbücher durchziehenden Vorliebe der Herausgeber für das Thema Chile ab, bleibt doch unverständlich, weshalb zwei schwach fundierte und streckenweise recht platte Chile–Artikel aufgenommen wurden (wie übrigens auch ein äußerst holpriger Beitrag über Uruguay). Eine weitere Nachlässigkeit der Herausgeber: Zwar haben sie dem Band eine ausgezeichnete kollektive Einleitung vorangestellt, doch dann haben sie es unterlassen, die analytischen Artikel auf das Leitthema „Zukunft“ wirklich zu beziehen, etwa anhand der Ehrke–Thesen. Daneben enthält der Band außerordentlich informative Artikel über den gescheiterten Friedensprozeß in Kolumbien, über den Erfolg der populistischen Politik in Peru, über Nicaragua und über das politische Nachbeben, das in Mexiko dem Erdbeben folgte. Wie jedes Jahr liegt der Redaktionsschluß mindestens ein halbes Jahr vor dem Erscheinungsda AUTOR_________: Klaus–Dieter Tangermann Dietmar Dirmoser u. a., Lateinamerika - Analysen und Berichte 10. Aussichten auf die Zukunft. Junius–Verlag Hamburg, 282 S., 24,80 DM