Das Verlangen nach neuen Gesichtern

■ Delegiertenkonferenz der Hessen–Grünen in Borken: Zu wenig Schnitzel, zu viele Wahlgänge / Fundamentalisten zerrissen ihre Stimmzettel / Kandidaten „aus der Tiefe des Raumes“ /Sechs Neulinge und sechs Altgediente in der neuen Fraktion

Aus Borken Heide Platen

Die Halle ist bis um sechs Uhr morgens gemietet. Die Uhr läuft, aber die Zeit scheint keine Rolle zu spielen. Beeilt euch, redet weniger, füllt eure Zettel richtig aus, mahnt das Präsidium immer wieder die rund 500 grünen Delegierten, die am Sonntag ins nordhessische Borken gekommen sind, um die Kandidatinnen und Kandidaten für die Landtagswahl am 5. April zu wählen. Das Wochenende zuvor hatten sie zwei Tage gebraucht, um acht der 20 Plätze zu besetzen. Die Zeit drängt, beim Landeswahlleiter ist der Abgabetermin am kommendan Tag um 18 Uhr. Aber der Abstimmungsmarathon schleppt sich im Kriechgang dahin. Das Präsidium rechnet hoch: Wenn jede und jeder Kandidat weiter ihre fünf Minuten Redezeit ausschöpfen, „sind wir am Dienstag gegen 24 Uhr vielleicht fertig“. In Borken im Schwalm–Eder– Kreis, da scheinen auch vor der Halle die Uhren etwas anders zu gehen als im Süden Hessens. Urbanität wird kleingeschrieben, die nächste Großstadt ist Kassel. Dörfer und kleine Städte leiden darunter, daß viele Firmen das Rhein– Main–Gebiet attraktiver finden. Es regnet, die Landschaft ist trist. Pfützen stehen auf den Feldern. Die Efze ist über die Ufer getreten. Dazwischen große schwarze Gruben. Die im Tagebau gewonnene Braunkohle wird im Kohlekraftwerk Borken verbrannt. 1992 wird die Braunkohle verbraucht sein. Seit einem halben Jahr klagt die Preußische Elektrizitätsgesellschaft gegen das Land Hessen. Sie will hier ein neues Atomkraftwerk bauen. Bisher sperrten sich SPD und Grüne dagegen. In der Stadthalle werden vorerst andere Schlachten geschlagen. Die blonde Wirtin ist munter verzweifelt: „Keiner hat uns gesagt, was auf uns zukommt.“ 50 Schnitzel hat sie vorsorglich für die Versammlung gebraten, Hunderte werden verlangt. Ein Kahlschlag in der Küche, die grüne Delegiertenversammlung als Heuschreckenschwarm. Am Ende ist alles aufgegessen. Dies bleibt eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Delegierten. Noch vor Ende der Versammlung verlassen die Fundamentalisten um Jutta Ditfurth und Manfred Zieran den Saal im Zorn. Minderheitenschutz hatten sie gewollt und „wenigstens Platz 13 auf die Liste“. Die Abfuhr ist eindeutig. Einige zerreißen ihre Stimmzettel, ehe sie gehen. Am Rande des Saales lecken auch andere Grüne die Wunden, die ihnen den Tag über geschlagen wurden. Der Pressesprecher der Landtagsfraktion, Reinhold Weist, läßt sich trösten und umarmt doch seinen Gegenkandidaten. Er hat Platz 10 gegen Herbert Reeh verloren. Der kam „aus der Tiefe des Raumes“ im Schwalm–Eder–Kreis zum Heimspiel. Das quält, denn Reinhold Weist ist selber Nordhesse. „Die Leute“, doziert Ex–Umweltminister Fischer, „wollen hier einfach neue Gesichter sehen“. Weist schafft es dann doch auf Platz 12 in einer Stichwahl gegen Manfred Zieran. Die beinharte Disziplin der Fundamentalisten endet gleich danach. Platz für Platz hatten sie sich von Anfang an immer wieder zur Wahl gestellt. Im Erdgeschoß sind neue Windeln fällig. Knuth Petzelt von der Bürgerinitiative gegen eine Mülldeponie im mittelhessischen Mainhausen wickelt seine Tochter. Er ist auch einer der Verlierer des Tages. Am Donnerstag hatte er, von Mafred Zieran mit Literaturhinweisen versehen, begonnen, sich sachkundig zu machen. Am Freitag beantragte er beim Gericht eine einstweilige Anordnung gegen die realpolitische Liste, weil die Wahlordnung unrechtmäßig geändert worden sei. Am Samstag lehnte das Gericht ab, am Sonntagmorgen distanzierten sich die Fundamentalisten von Petzelt. Nun ist er zornig, beschimpft alle und versichert, er habe alles ganz anders gemeint, habe nur warnen wollen. Und noch ein Verlierer: Dirk Treber, einst grüne Symbolfigur im Widerstand gegen die Startbahn West, wird nicht wieder in den Landtag einziehen. Seine Basis vergab das Direktmandat an eine Frau. Eigentlich recht zufrieden und ebenso erschöpft waren am Ende des langen Tages die Stimmenauszähler. In riesigen grauen Tonnen hatten sie Stunde um Stunde die Wahlzettel eingesammelt. Hinter einem Vorhang saßen sie in einer mit alten Möbeln vollgestopften Rumpelkammer und zählten und zählten. Für fast jedes Mandat drei Wahlgänge, das sind 18.000 Stimmzettel, rechnete ein Zuschauer. Rund 20 Bewerber pro Mandat, jeweils mit Ja– und Nein– Stimme auszuzählen, das sind...? Nichts mehr für Kopfrechner. Um 23 Uhr ist die Liste komplett: Iris Blaul, Joschka Fischer, Irene Sollwedel, Fritz Hertle, Daniela Wagner Petzold, Chris Boppel, Priska Hinz, Rupert von Plottnitz, Alla Korwisi, Herbert Reeh, Ulrike Riedel, Reinhold Weist, Margarete Niemsch, Werner Wenz, Marianne Knipping, Jochen Vielhauer, Karin Hagemann, Winfried Beck, Christine Fischer und der Jurist Azzola. In der neuen Fraktion werden sich - wenn die Grünen über 10 Stimmen bekommen - sechs Neulinge und sechs „Altgediente“ aus Umweltministerium und Fraktion zusammenraufen müssen.