Abriß mit Modellcharakter

Im bayerischen Niederaichbach soll zum ersten Mal auf dieser Welt ein Atomkraftwerk abgerissen werden. Die Kosten für das Begräbnis erster Klasse werden offiziell auf rund 100 Millionen Mark geschätzt, das ist fast die Hälfte der Gesamtbausumme des 100 Megawatt Druckröhrenreaktors, der 1972 in Betrieb ging und 230 Millionen Mark kostete. Niederaichbach hat Modellcharakter: Hier will die Atomwirtschaft den Abriß von Atomkraftwerken vorexerzieren. „Wir wollen zeigen, daß es geht und wie es geht“, gibt Dr. Hübenthal vom Entsorgungsreferat im Bundesforschungsministerium die Parole aus. Hübenthal bestätigt damit, was Bürgerinitiativen seit langem kritisieren: In Niederaichbach wird erst ausprobiert, was das Gesetz schon vor dem ersten Spatenstich für einen Atommeiler als Stand der Technik zwingend vorschreibt: Seine Entsorgung und sein gesicherter Abriß. Trotz des Modellcharakters kann Niederaichbach nicht mit den heutigen großen AKWs verglichen werden. Der Reaktor in den Isarauen, einst „Prototyp einer aussichtsreichen Reaktorbaulinie“, wurde nämlich umgerechnet nur ganze 18 Tage in Vollast betrieben, bevor er wegen Materialfehlern und bis heute ungeklärten Störfällen 1974 ausgeknipst werden mußte. Sein radioaktives Inventar liegt bei vergleichsweise „bescheidenen“ 1.000 Curie (1 curie entspricht 37 Milliarden Becquerel). Dennoch sind die Abrißprobleme gravierend. Schon die anfallenden Massen sprengen herkömmliche Vorstellungen. 135.000 Tonnen Beton, Stahl und „Sonstiges“ müssen dekontaminiert (entseucht), zersägt, zerfräst, auseinandergeschweißt, gesprengt und schließlich wegtransportiert werden. Während in schwach strahlenden Bereichen diese Arbeiten vom Abriß–Personal vorgenommen werden, müssen in den heißen Zonen sogenannte Manipulatoren ran. Käme es zu Störungen an und mit den Manipulatoren wäre in Niederaichbach ein „Eingriff von Hand“ unter Inkaufnahme von erheblichen Strahlenbelastungen noch möglich. Die höchste örtliche Dosis wird hier auf 30 rem pro Stunde geschätzt. In einem 20 Jahre lang betriebenen großen AKW wird sie laut Öko–Institut 100.000 mal größer sein. Ein menschlicher Zugriff ist dann ausgeschlossen. Wohin mit den Massen von Atommüll? In Niederaichbach hat man das Problem durch eine „Umwidmung“ gelöst: Der größte Teil des leicht radioaktiven Bauschutts soll zum „nichtradioaktiven Abfall“ erklärt werden und kann demnach „im Straßenbau Verwendung finden oder auf umliegende Deponien verbracht werden“. In der „Atomwirtschaft“ schreibt dazu K. Ramcke (Preußen–Elektra): „Der radioaktive Abfall kann somit erheblich reduziert und die Zwischen– und Endlager erheblich entlastet werden“. Doch ein Endlager existiert bisher nicht: In Gorleben wird ein untauglicher Salzstock erkundet, und auch das ausgediente Erzbergwerk Schacht Konrad ist noch nicht genehmigt. Zur Umwidmung der radioaktiven Abfälle von Niederaichbach wurden sogenannte Freigrenzen geschaffen. Alle AKW–Reste, deren Radioaktivitätsgehalt weniger als (je nach Strahler) 37 bis 37.000 Becquerel je Kilo beträgt, sollen laut Genehmigung nicht mehr als radioaktiv behandelt werden. Mit der Festsetzung der Freigrenzen hat Niederaichbach tatsächlich Modellcharakter. Sie sollen später auch beim Abriß der großen Klötze eingeführt werden. Um Platz in den Lagern zu sparen, wurden beim Abrißkonzept Niederaichbach auch von der Endlagerung flüssiger Abfälle abgerückt, die noch 1980 vorgesehen war. Jetzt heißt es lapidar, die Abwässer sollen im benachbarten AKW Isar I (Ohu) aufbereitet und in die Isar geleitet werden. Insgesamt 3.000 Einwendungen wurde gegen den Abriß von Niederaichbach erhoben. Im Juni 1986 wurde das Konzept genehmigt. Doch der Vollzug konnte von den Bürgerinitiativen gerichtlich gestoppt werden. Der richterliche Segen für die Abriß–Pläne steht noch aus. Doch selbst wenn er erteilt wird, sind die Kosten und Probleme für einen AKW–Abriß so groß, daß ein Vergraben an Ort und Stelle der Atomgemeinde verlockend erscheint. man