Kälte in der Stadt der tausend Feuer

■ „Woche der Unruhe“ wegen Thyssen–Entlassungen in Hattingen und Oberhausen / Drohende Aufgabe der Stahlstandorte mobilisiert die Leute von Baby bis zum Senior / Zwei Revierstädte stehen vor der Pleite: Kapitalismus live

Aus Duisburg Corinna Kawaters

Mittwoch früh in Duisburg– Marxloh vor der Thyssen–Hauptverwaltung: Seit dem Morgen bildet ein Grüppchen von Stahlarbeitern aus Hattingen und Oberhausen eine Mahnwache vor der Eingangshalle des Konzerns. In bitterer Kälte stehen die Protestierer vor dem völlig leeren, wohlgeheizten Glaskasten, in dem eine Empfangsdame sich vergeblich bemüht, sich hinter Blumenstrauß und Telefon zu verstecken. Gegen Mittag rollen fünf Reisebusse an. Frauen, Kinder und die 10. Klasse einer Hattinger Hauptschule quellen mit Spruchbändern und Transparenten in die Kälte. „Die Männer sind zornig, wir Frauen sind der ausbrechende Vulkan“, „wir kochen schon lange, jetzt machen wir einen Auflauf“ sind die Parolen der Hattinger Fraueninitiative und die Hauptschüler grölen:“ Alles Kacke, alles Dreck, denn die Hütte ist bald weg“. „Die Jugendlichen haben völlig recht“ finden die beiden Mitbegründerinnen der Fraueninitiative, Silvia Zimmermann und Elke Ratke: „Besonders für die Hauptschüler wird das schlimm, denn die Hütte hat für die die meisten Ausbildungsplätze geboten“. Insgesamt 5.900 Beschäftigte will die Thyssen Stahl AG in Hattingen und Oberhausen entlassen. Stahl und Draht werden dort produziert und beides ist im Moment schwer verkäuflich. Der niedrige Dollarkurs, Billigimporte, Subventionspolitik im Ausland und schlechtes Management kommen als Ursachen zusammen und werden nach Einschätzung der IG Metall bis zum Ende des nächsten Jahres bundesweit an die 20.000 Arbeiter überflüssig machen. Für Hattingen gab es drei Variationen zur Reduzierung des Henrichshüttenproduktes „Grobblech“. Der Konzern entschied sich Mitte Februar für die Lösung, die für Thyssen die höchsten Profite und für die Henrichshütte die meisten Entlassungen bringt. Der „Abbauplan“ für die Hütte ist schon fertig. Anfang April müssen die ersten 300 Arbeiter gehen. In vierteljährlichen Abständen wird der Betrieb dann bis Ende 88 auf 1.800 Beschäftigte schrumpfen. Daß die Werksfeuerwehr, der werksärztliche Dienst und die Ausbildungsplätze unter den ersten Sparopfern sind, erbost die Hattinger ganz besonders. Doch auch die Zukunft der letzten 1.800 Werktätigen ist ungewiß: Fusionspläne mit Krupp und Klöckner sind im Gespräch. Die Versorgung der Entlassenen stellt der Konzern der öffentlichen Fürsorge anheim, wie Thyssen– Pressesprecher Peter von Bargen ungeniert bei einer Bürgerversammlung vortrug. Die Oberhausener trösten sich im Augenblick noch damit, daß es für ihr Werk noch keine konkreten Entlassungspläne gibt. Oberhausen wurde gerade im Februar 125 Jahre alt und ist ein Musterbeispiel für die Menschenmühle „Strukturwandel“. In Oberhausen, der „Wiege des Reviers“, entstand 1758 das erste Stahlwerk der Region. „Die Stadt der tausend Feuer“ wurde sie genannt, als noch florierende Zechen und Stahlbetriebe 250.000 Menschen in die Stadt am Niederrhein gelockt hatten. Doch innerhalb der letzten 20 Jahre verloren hier 10.000 von 14.000 in der Kohle– und Stahlproduktion arbeitenden Menschen ihre Stellung, die Arbeitslosenquote liegt heute bei 16,3 % „Tja, 125 Jahre ist Oberhausen alt geworden“, meinte am Mittwoch einer der Mahnwächter, aber 150 Jahre schaffen wir nicht. Bis dahin ist Oberhausen eine Geisterstadt geworden.“ Ähnliches befürchten die Hattinger. In dieser Kleinstadt an der Ruhr hängt jeder dritte Arbeitsplatz von der Hütte ab, die Folge der Schließung wird eine Arbeitslosenquote von 28 % sein. Daher beteiligen sich hier nicht nur die direkt Betroffenen an den Widerstandsaktionen. Von der Metzger– und Bäckerinnung, die für Donnerstag zum Schweigemarsch aufrief, über die Sport–, Schützen–, Gesangs– und Turnvereine, die Schäferhunde– und Taubenzüchter, bis zu den Hobbygärtnern ist ganz Hattingen aktiv. Die von dem IG–Metall–Aktionsausschuß organisierte Woche der Unruhe umfaßt von Mittwoch bis Samstag Protestkundgebungen einzelner Bürgergruppen. Doch Lösungsmöglichkeiten für das Problem sind erstmal nicht in Sicht. Ersatzarbeitsplätze gibt es nicht und das Modell Stahlstiftung Ruhr, das vorübergehend als Hoffnungsanker galt, ist unter Experten umstritten. Die Hattinger IG Metall hält es für unsinnig, weil auf längere Sicht bundesweit sechs bis zehnmal mehr Betroffene als beim Saarmodell anstehen werden. Andere Skeptiker halten es für einen „sozial abgefederten Arbeitsdienst“ (siehe taz vom 29.1.87). Denn im Saarmodell werden gerade mal 868 ehemalige Stahlarbeiter der Saarstahl Völklingen GmbH auf dem ehemaligen Werksgelände mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Dafür erhalten sie außer dem Arbeitslosengeld vom Bund Zuschüsse aus Landes– und EG–Töpfen. Der stellvertretende Landesvorsitzende der CDU Pützhofen schlug vor,die Unternehmen sollten andere Produktionsteile in die alten Werke verlegen, um so für die Erhaltung der Stahlstandorte zu sorgen. Gleichzeitig erinnerte „der Kennedy vom Niederrhein“ Bundeskanzler Kohl an sein Wahlkampfversprechen, in Notsituationen zu helfen. Die CDU in NRW müsse sich zum „Anwalt der Menschen an Rhein und Ruhr machen“. Auch Ministerpräsident Johannes Rau macht sich Gedanken und ein Bild über die Lage vor Ort. Nachdem er in einem Brief an den Thyssen–Vorstandsvorsitzenden Spethmann vor dem „Vertrauensverlust in die regionale und soziale Verantwortung „ gewarnt hatte, traf er am Donnerstag in Hattingen mit Betriebs– und Stadträten der beiden Stahlstädte zusammen. Hunderte von Hattinger Bürgern marschierten zum Gesprächsort. „Wir kämpfen um unsere Henrichshütte“ stand auf einem der vielen Transparente, die die Frauen und Kinder am Mittwoch mit sich führten, und der kampf geht weiter. Vom 11. März an sollen Mahnwachen vor dem Bundeskanzleramt das Stahlproblem ins rechte Licht rücken, für den 18. März hat der bundesweite Aktionsausschuß Stahl der IG Metall zum Aktionstag in Oberhausen und Hattingen aufgerufen.