Die Wiederentdeckung der Füße

■ Bericht über eine Tagung mit unkonventionellen Einsichten zum Autoverkehr / Mobilität entsteht, weil jemand an dem Ort, an dem er ist, nicht bleiben will / Die Folge der motorisierten Umtriebigkeit: wir verlieren die Nähe / Das Macho–Vehikel krankt an sich selbst

Wir jetten mit dem „Flieger“ zum Urlaub nach Indonesien. Mit dem Auto brettern wir zum 50 Kilometer entfernten Arbeitsplatz oder in die Disco im Industriegebiet. Am Wochenende schnallen wir Skier oder ein Surfbrett aufs Autodach und verlassen die Stadt zur Fahrt in ein Naherholungsgebiet. Wir sind mobil; mit dem Auto gewinnen wir Herrschaft über den Raum. Die Fahrt, die Erlebnis sein könnte wie in den literarischen Reiseschilderungen des 18. und 19. Jahrhunderts, ist heute zum Hindernis, zum bloßen Zeitfaktor, zur Strecke geworden. Was zählt, ist Geschwindigkeit. Wir gewinnen die Mobilität, aber wir verlieren die Nähe. Eine Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain im Taunus wollte diesem Verlust der Nähe und den „Folgen einer wachsenden Mobilität für die Stadt– und Landesentwicklung“ am vergangenen Wochenende nachspüren. Mobilität ist bei uns gleichbedeutend mit Autobesitz gewor den. Der Name des Fortbewegungsmittels ist Programm: Automobil. Bis zum ersten Weltkrieg war das Auto ein Luxusgegenstand der oberen Zehntausend und Objekt der Begierde der breiten Masse. „Stellen Sie sich eine gesündere Generation von Arbeitern vor“, schrieb bereits 1904 ein amerikanischer Autor, „die am späten Nachmittag in ihren eigenen komfortablen Fahrzeugen zu ihren kleinen Höfen oder Häusern auf dem Land oder an der See 20 oder 30 Meilen entfernt gleiten. Sie werden glücklichere, gesündere, intelligentere und selbstbewußtere Bürger sein, denn sie haben das Glück, auf dem Land zwischen Wiesen und Blumen zu wohnen und nicht in den überfüllten Straßen der Stadt.“ Die Vision der motorisierten Pendler ist inzwischen zum Alptraum geworden. Stattdessen führe der Wunsch nach uneingeschränkter Mobilität zur Herrschaft über den Raum, kritisierte der Dortmunder Verkehrsingenieur Helmut Holz apfel. Im beherrschten Raum aber lebten beherrschte Menschen. Holzapfel machte seine These am Beispiel der Stadtrandentwicklung deutlich. Vor dem automobilen Zeitalter sei der Stadtrand das selbstverständliche Erholungsgebiet für Stadtmenschen gewesen. Entweder zu Fuß, oder später mit der Bahn, gelangten die Menschen hinaus „ins Grüne“. Das gigantische Flächenwachstum der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg habe vor allem den Stadtrand als Nahzone zerstört. Verkehrsachsen zerschnitten gewachsene Siedlungsgebiete, neue Schlafstädte krempelten die ländliche Sozialstruktur um, Gewerbebetriebe und Supermärkte demonstrierten die Vorherrschaft städtischer Lebensweise auf dem Land. Entlang den Ausfallstraßen entstand in den sechziger und siebziger Jahren eine mitteleuropäische Einheitsarchitektur von Tankstellen, SB– Märkten und Imbissen. Die zersiedelte Landschaft lockte keine Ausflügler mehr an. Die auto–mo bilen Ausflügler und Pendler hatten den Stadtrand „konsumiert“ und drangen in ihrem Appetit auf neue Landschaft immer weiter ins Umland vor. Aber der autofahrende Pendler, der jeden Tag 100 Kilometer herunterreißt, erscheint nur auf den ersten Blick als besonders mobil. Tatsächlich ist er - verglichen mit Bewohnern der Kernstadt, wo die Wege kürzer sind und leicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können - der unbeweglichste. Eine Begriffsbestimmung wonach unter Mobiltät die „motorisiert zurückgelegte Wegstrecke“ zu verstehen sei, entlarvt in den Augen des Berliner Soziologen Otto Ullrich eine in wirtschaftliches Wachstum verrannte Gesellschaft, die alle Maßstäbe verloren habe. Wenn Statistiken früher die im Auto zurückgelegten Personenkilometer als Wohlstandsbarometer von Industriegesellschaften geführt hätten, müsse dies heute eher als Schadensgröße eingestuft werden - als Index für Umweltbelastungen, Todesfälle und Verstümmelungen auf den Straßen. Das Auto sei die ideale Ware des Kapitalismus, weil es als individueller Besitz Nutzen spende, den Schaden aber der Allgemeinheit überantworte. Man sollte, plädierte Ullrich, nicht nur über den Ausstieg aus der Atomwirtschaft nachden ken. Auch das Auto sei „Ausstiegskandidat“. Die Blechkiste - griff Ullrich einen Gedanken von Andre Gorz auf, sei eben „kein demokratisierbares Gut“. Doch ganz so radikal wie Ullrich mochten nicht alle Arnoldshainer Referenten mit dem fahrbaren Untersatz abrechnen. Der Münchner Verkehrsplaner Hans– Henning von Winning machte sich für „kleine Lösungen“ stark, für ein „Rückfahren“ des Automobilismus auf ein „erträgliches Maß“. Ein geeignetes Instrument sieht er in Maßnahmen der Verkehrsberuhigung. Eine Fahrbahnverengung hier, ein paar frisch gepflanzte Bäume da, „ein paar freundliche Tricks“, ohne die „Industriegesellschaft aus den Schuhen zu kippen.“ Wenn der politische Wille in den Kommunen da ist, sei manches „machbar“. Ganz falsch dagegen sei es, den öffentlichen Verkehr zu subventionieren. Ob und unter welchen Bedingungen Busse und Bahnen überhaupt eine Alternative zur Wiedergewinnung der Nähe sind, blieb umstritten. Wenn etwa der öffentliche Nahverkehr nach „Auto–Maßstäben“ operiere wie die S–Bahn–Systeme in den Ballungsgebieten, gab der Berliner Planer Eckart Kutter zu bedenken, seien die negativen Folgen dieselben wie bei „autoabhängigen Siedlungssystemen“: Zersiedlung der Landschaft, Entleerung des ländlichen Raumes, Prosperität der Metropole auf Kosten des Umlands. Der S–Bahn–Fahrgast, der seinen Pkw auf einem Park– and–Ride–Platz abstellt und 50 km mit der S–Bahn zurücklegt, sei eben nur ein bißchen umweltbewußter als sein Nachbar, der die gesamte Strecke auf eigenen vier Rädern zurücklegt. „Mobilität“ im Sinne von mehr Lebensqualität genießen beide nicht. Langfristuntersuchungen, pflichtete der Kasseler Verkehrsplaner Rainer Meyfahrt seinen Kollegen bei, hätten ergeben, daß die Zahl der zurückgelegten Wege gleich geblieben sei, aber die Entfernungen seien immer mehr gewachsen: „Der Mensch wird nicht mobiler, er paßt sich nur gewachsenen Entfernungen an.“ Es sei in vielen Verkehrskonzepten immer noch üblich, Vielfahrer in Bussen und Bahnen durch niedrigere Tarife zu belohnen. Ebenso könne der Ausbau des öffentlichen Verkehrs kein Ziel an sich sein, er dürfe nicht heiliggesprochen werden. Die vernünftigste Perspektive sei die Verkehrs–Vermeidung, und das sei eben nur möglich, wenn der Nahbereich aufgewertet und aktiviert würde. Kurzum: „Es muß mehr zu Fuß gegangen werden.“ Günter Beyer