„Wir sind die lebenden Toten“

■ Im palästinensischen Flüchtlingslager Chatila hat sich der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten dramatisch zugespitzt Die Bewohner sitzen im Dunkeln in den Kellern / Demonstrationsversuche scheiterten an Beschuß durch schiitische Amal–Milizen

Aus Beirut Petra Groll

„Wir sind die lebenden Toten hier, von aller Welt vergessen und in unseren Kellern lebendig begraben“. So faßt eine Bewohnerin des seit 104 Tagen lückenlos umzingelten Palästinenserlagers Chatila die Situation zusammen. Auch 14 Tage nach dem Einmarsch syrischer Truppen in Westbeirut dauert das Drama um die Lager am Rande der libanesischen Hauptstadt an. Wie die Frau am Wochenende in einem Telefongespräch berichtete, fehlen mittlerweile nicht nur Lebensmittel und Medikamente, sondern auch Kerzen und Campinggas, womit die etwa 4.000 eingeschlossenen Bewohner ihre Behausungen beleuchtet hatten. Die Elektrizitätsversorgung war bereits zu Beginn der Kämpfe unterbrochen worden. Nach Angst und Hunger werden die Menschen in Chatila von einer neuen Plage heimgesucht. Die Frau berichtet, daß jetzt, in der Dunkelheit, die Ratten keine Scheu mehr zeigten, Kinder anzugreifen. Da sich seit vier Monaten der Müll im Lager stapele, wüchsen und gediehen alle möglichen Sorten von Ungeziefer. Nach einer Woche ununterbrochenen Regens hielten es die Menschen kaum noch in den kalten und feuchten Kellern und letzten Winkeln des zu 95 läßt,“ erzählt die Frau aus Chatila weiter. „Stühe, Tische, wir suchen nach den letzten Papierfetzen.“ Besonders kritisch ist nach Aussagen des kanadischen Arztes Chris Giannou, der im unterirdischen Feldlazarett von Chatila arbeitet, die medizinische Versorgung geworden. „Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten hat sich in den letzten zwei Wochen dramatisch zugespitzt“, berichtet er. „Krankheiten lassen sich kaum noch behandeln, weil erstens die Medikamente fehlen und zweitens die Patienten sehr geschwächt sind. Auch Verletzungen heilen kaum noch, sondern entzünden sich in aller Regel. Die Leute haben kaum noch körpereigene Abwehrkräfte. Besonders schlecht geht es schwangeren Frauen. Sie sind unterernährt und vor allem nervlich völlig am Ende. Es kam zu Fehlgeburten.“ Am Samstag morgen hatten die Einwohner des Lagers versucht, eine kleine Demonstration zu organisieren, um auf die Not im Lager aufmerksam zu machen, wie die Lagerbewohnerin am Telefon weiter erzählt. Doch sofort seien wieder Gefechte ausgebrochen. Frauen in Chatila hatten beschlossen, am Montag in einem demonstrativen Zug an den Eingang des Lagers zu gehen und die Aufhebung der Blockade des Lagers zu erzwingen. „Die syrischen Truppen haben Westbeirut unter Kontrolle. Können sie nicht für einen Waffenstillstand sorgen und uns erlauben, außerhalb des Lagers einzukaufen, wenn sie schon nicht für die Aufhebung der Blockade sorgen können?“ Die syrischen Soldaten haben nur 100 bis 200 Meter vom Lager entfernt Position bezogen. Die mit Syrien verbündete Schiitenmiliz Amal wurde in dieser Gegend nicht entwaffnet. So scheiterte auch die Absicht der Frauen, am Montag erneut zu demonstrieren, am Beschuß seitens der Schiitenmiliz. Seit dem Einmarsch der Sre nach Westbeirut am 22. Februar sind zwei Lebensmitellieferungen nach Chatila gelangt. Seit dem Wochenende kam es wieder täglich zu Gefechten zwischen den Lagerbewohnern und Amal. In Borj al Brajneh, dem zweiten Palästinenserlager in Beirut, können die Frauen zwar seit dem 18. Februar das Camp verlassen und außerhalb einkaufen gehen. Nach Angaben der „Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas“ wurden seither jedoch elf Frauen bei ihren Besorgungen erschossen und 32 weitere verletzt. Gleichen Angaben zufolge wurde am Samstag eine Frau von Amal– Milizionären erschossen, weil sie sich weigerte, die Zeitung der Schiitenorganisation zu kaufen.