Kein Indizierungstag wie jeder andere

■ Zwölf Mal im Jahr tagt das Zwölfergremium der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, der pro Jahr 100 Titel zum Opfer fallen / Blick hinter die Kulissen der ansonsten unbeachteten Zensurstelle bei ihrem Kampf gegen „Unsittliches“

Aus Bonn Oliver Tolmein

Auf dem kahlen, mit Plastikfußboden ausgelegten Gang wird gewettet. Besonders optimistisch ist niemand. Nervös geht einer auf, ein anderer ab, zwei sitzen gelangweilt in der Ecke: die Stimmung erinnert ein bißchen an die vor Versetzungs– und Strafkonferenzen. Nur, daß die, die draußen warten Schlips, Anzug und Aktenkoffer tragen und ihre Examina längst hinter sich haben: es sind Rechtsanwälte und Verleger. Und sie warten nicht auf Noten, sondern auf einen Bescheid der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, deren Mitglieder hinter den beiden verschlossenen Türen beratschlagen: Gefährdet die Oktoberausgabe der Zeitschrift Tempo die bundesdeutsche Jugend, ist sie geeignet, so der fast alles entscheidende Terminus, „sozialethische Begriffsverwirrung“ anzurichten? Ein Indizierungstag wie jeder andere: zwölf mal im Jahr und das seit 1953, als das „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ nach zähem Hickhack zwischen Bundesrat und Bundestag in Kraft trat, tagt das Zwölfergremium. Quälendes Tempo Etwas ist allerdings an diesem Donnerstag morgen anders. Journalisten von Stern bis dpa sind anwesend. Und als dann auch noch die taz leicht verspätet in die Sitzung platzt, ahnt die Protokollführerin schon deren Interesse: „Sie hat auch der Greno–Verlag hergebeten?“. Tatsächlich hat der angekündigte Auftritt Hans Magnus Enzensbergers, des Herausgebers der „Anderen Bibliothek“ im Greno–Verlag, das für die sonst weitgehend unbeachtet zensierende Bundesprüfstelle außerordentliche öffentliche Interesse geweckt. Enzensberger will, auch das ist ungewöhnlich für die Prüfstelle, die gewohnt ist, mit erfahrenen und leidenschaftslosen Anwälten der Verlage zusammenzuarbeiten, die „Viktorianischen Ausschweifungen“, ein Stück britische erotische Literatur aus dem letzten Jahrhundert, durch ein eigenes Plädoyer vor der Indizie rung bewahren. Aber vor den Spaß haben die Prüfstellenmitglieder unter Vorsitz der Oberregierungsrätin Elke Monsse–Engberding die Verhandlung über den Antrag gegen Tempo gesetzt. Und die verläuft quälend: wie oft diese Zeitung denn erscheine, will einer der von „relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen des öffentlichen Lebens“ - dazu gehören vor allem die Kirchen - delegierten Beisitzer wissen. „Zweimonatlich“ behauptet der Anwalt und keiner in der Runde merkt, daß der Verteidiger seinen Mandanten ebensowenig kennt wie die Richter ihren Angeklagten. Im Verlauf der nächsten 20 Verhandlungsminuten wird die tatsächlich monatlich erscheinende Tempo mehrmals mit dem Wiener verwechselt, wird sie mal als „Jugend–“, mal als „Herren–“, letzten Endes dann doch als „Magazin für 25– bis 40jährige“ bezeichnet, denn „es erfordert, Herr Beisitzer, doch ein gewisses Maß an Intellektualismus, diese Zeitschrift für fünf Mark zu kaufen und dann zu lesen. Welcher Jugendliche heute versteht denn solche redaktionellen Inhalte“. Das Argument des Tempo–Anwalts überzeugt das lust– und etwas ratlos in der Hochglanzzeitschrift herumblätternde Dutzend und als er auch noch verspricht, daß das Zeitgeistmagazin künftig „selbstverständlich“ keine „Macho–, Sado–Maso und ähnliche“ Kontaktanzeigen mehr annehmen werde, geht ein erleichtertes Lächeln über Frau Monsse–Engberdings Gesicht. Weitere Fragen? Keine - dann müssen Öffentlichkeit und Tempo–Anwalt vor die Tür. Im Verhandlungszimmer, das eigentlich der Bundesanstalt für Raumordnung gehört, geht jetzt das eigentliche Gezerre los: Muß bei Tempo–Lektüre der „mutmaßliche Eintritt einer sittlichen Gefährdung“ befürchtet werden? An diesem Leitsatz des Bundesverwaltungsgerichts von 1971 nämlich orientiert sich die nach einem Gutachten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zunehmend konservative Spruchpraxis der Bundesprüfstelle, der durchschnittlich etwa 100 Titel pro Jahr zum Opfer fal len: die meisten zählen zur erotischen Literatur, selten werden gewalt– und kriegsverherrlichende Schriften für jugendgefährdend gehalten. Eine Ausnahme bilden allerdings die Videos, für die die Bundesprüfstelle ebenfalls zu ständig ist und die überwiegend wegen brutaler Darstellungen aus dem Verkehr gezogen werden. Dann: Marschmusik Knapp eine Viertelstunde dauert drinnen die Beratung. Die Indizierung eines Heftes störe Tempo wenig, wird draußen erklärt. Unangenehm werde es erst, wenn das Heft zum dritten Mal auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften gesetzt wird: dann kommt es automatisch zu einer Dauerindizierung und das heißt: Werbeverbot, schlechtere Verkaufsmöglichkeiten über den Zeitschriftenhandel, Verbannung aus den Lesezirkeln. Aber das Risiko ist gering - noch. Selbst Penthouse oder Playboy schaffen es immer wieder, ungeschoren über die Tische der Jugendschützer zu gehen. „Sie können wieder reinkommen!“ Die Vorsitzende macht es kurz: „Nicht indiziert“ verkündet sie und ruft sofort den nächsten Tagesordnungspunkt auf: eine Schallplatten–Kollektion, die Reden von Nazi–Größen versammelt. „So war es damals“ - der Rechtsanwalt hat vorsichtshalber ein ganzes Bündel der grellroten Werbesticker mitgebracht. Aber die Beisitzer wollen diesmal nichts sehen, sämtliche Langspielplatten müssen angehört werden. Drei Stunden Marschmusik, Goebbels– und Hitlerreden - das schafft selbst hartgesottene Jugendschützer. Der Delegierte des Zentralrates der Juden, Fürst, kann den nazistischen Wortschwall noch weniger gelassen über sich ergehen lassen als seine Kollegen - er muß aber die ganzen drei Stunden ausharren. Hans Magnus Enzensberger, dessen Verhandlungstermin um Stunden nach hinten verschoben worden ist, verläßt bereits nach zwanzig Minuten Zuhören entnervt den Raum. Umsonst gewartet Am Nachmittag, nach langen Beratungen, fällt auch die Entscheidung in diesem Fall: eine der Platten, sie trägt den Titel „Röhm– Putsch“, wird vollständig indiziert, bei den anderen werden lediglich die Hüllen als „jugendgefährdend“ eingestuft. Der Anwalt bedankt sich artig und geht - die Presse, geduldig auf den Enzensberger–Auftritt wartend, betritt nun wieder den Prüfungsraum. Umsonst, wie sich nach zwei Minuten herausstellen wird. „Wir haben bereits ausführlich beraten“ verkündet die Vorsitzende „und haben uns dafür entschieden, erstmal ein Gutachten über die Viktorianischen Ausschweifungen in Auftrag zu geben, um zu klären, inwieweit das Buch ein Kunstwerk ist oder der Kunst dient“. Damit ist die Sitzung der Bundesprüfstelle geschlossen. Enzensberger macht gute Miene zum Indizierungsspiel. Ein Punktsieg ist dieser allemal: In anderen Fassungen sind die „Viktorianischen Ausschweifungen“ jeweils umgehend auf dem Index gelandet: einmal jugendgefährdend - immer jugendgefährdend. Daß die Bundesprüfstelle angesichts des ihr unangenehmen öffentlichen Interesses ein Gutachten abwarten will, deutet eine Chance an, den Kunstvorbehalt ausnahmsweise über den Jugendschutz zu stellen.