K O M M E N T A R Ein klares Jein

■ Kohls Regierungserklärung

Am Anspruch eines Visionärs konnte Kohls Regierungserklärung nicht gemessen werden, schon gar nicht nach der Bildung dieses Hinterzimmer–Kabinetts. Im Mief ungelüfteter Räume dünsten die Grundwerte vor sich hin, gedeihen bedenkliche Sprachkulturen. Freiheit? „Sinnerfülltes Tun in der Mitverantwortung für den Nächsten“. Zwei Stunden solcherlei Definitionen, ein politischer Smog, ein sprachliches Inversionsklima, gesundheitsschädlich und betäubend. Das war keine Regierungserklärung im Sinne der Klarlegung der künftigen Politik, sondern der Anpfiff für den Grabenkrieg innerhalb des Koalitionslagers. So gesehen führt Sprachanalyse am ehesten zum politischen Inhalt. Das von Gorbatschow propagierte „neue Denken“ wird begrüßt mit dem Hinweis, man werde die Sowjets schon beim Worte nehmen. Diese qualmige Undeutlichkeit ist genau die Praxis, mit der schon immer historische Chancen verspielt worden sind. Kohl ist kein Konservativer, er ist der passive Agent eines Wohlfahrtsstaates, der keine Wohlfahrt mehr fingieren kann und auch keine überzeugende Fiktion einer Kompensation der Misere zuläßt, die das westdeutsche Industriesystem für das biologische und soziale Leben seiner Mitglieder heraufbeschwört. Klaus Hartung