Widerstand gegen Reagans ABM–Auslegung

■ Ronald Reagan will an „weiter“ Auslegung des ABM–Vertrages festhalten / Rüstungsexperte Nunn erklärt Neuinterpretation für „absurd“ / Streit um einzelne Begriffe des Vertragwerkes / Nunn kein prinzipieller Gegner von SDI, aber gegen Verletzung von ABM

Aus Washington Stefan Schaaf

Trotz der Niederlage, die Reagan letzte Woche im Kongreß einstecken mußte, als der einflußreiche demokratische Senator Sam Nunn die Neuinterpretation des ABM– Vertrages durch die Reagan–Administration in drei ausgedehnten Reden seziert und verworfen hatte, will der Präsident an der „weiten“ Auslegung des 1972 geschlossenen Abkommens zur Begrenzung antiballistischer Raketensysteme festhalten. Auf seiner ersten Pressekonferenz seit vier Monaten meinte er, die „enge“ Auslegung behindere die Entwicklung von SDI. Allerdings räumte er ein, daß ein Festhalten an der bisherigen Interpretation während der nächsten zwei Jahre akzeptabel sei. Die neue Lesart des Vertrages sei „absurd“ und „unlogisch“, hatte der Rüstungsexperte Nunn im Kongreß erklärt. Die Grundlage der Neuinterpretation, eine Studie des juristischen Beraters im State Department, Abraham Sofaer, aus dem Jahre 1985 sei in fast allen Punkten angreifbar und zum Teil nachweisbar falsch. Der ABM–Vertrag habe die Funktion, das Prinzip der Abschreckung und der gegenseitigen Verwundbarkeit festzuschreiben. Er sollte verhindern, daß eine der beiden Supermächte ein ihr Territorium umfassendes Abwehrsystem gegen gegnerische Interkontinentalraketen aufbaut. Lediglich zwei lokale, feststationierte ABM–Sy steme wurden jeder Seite zugestanden. Unter dem ABM–Vertrag ausgeschlossen sind see– oder luftstationierte Abwehrsysteme - wie sie in Präsident Reagans SDI–Programm angestrebt werden. Zugelassen ist bisher lediglich, daß Teile solcher Systeme erforscht und, sofern sie landgestützt sind, im Labor entwickelt und getestet werden. Tests im All oder gar ihre Stationierung sind ausgeschlossen. Dies war zumindest der Konsens, bis die SDI–Fanatiker in der Reagan–Administration im Herbst 1985 Sofaer auf die Bühne schickten. Seiner Ansicht nach seien die Formulierungen des Vertrags dort unklar, wo es um 1972 noch nicht bekannte, „exotische“ Abwehrwaffen gehe, also genau solche Systeme, an denen die SDI–Techniker gegenwärtig arbeiten. Der ABM–Vertrag Um diese Kontroverse genau zu verstehen, ist es nötig, den Vertragstext selbst heranzuziehen. Im zweiten Artikel wird definiert, was ein ABM–System ist: „ein System, um strategische ballistische Raketen oder ihre Bestandteile im Flug zu zerstören“. Weiter heißt es dort: „Solche Systeme bestehen GEGENWÄRTIG aus Abfangraketen (...), Abschußvorrichtungen (...) und Radaranlagen (...).“ Das Wort „gegenwärtig“ ist hier hervorgehoben, weil es den Kern des Streits bildet. Sofaers Standpunkt war, daß der Einschluß dieses Wortes in den Vertragstext verdeutliche, daß zukünftige ABM–Systeme durch das Abkommen nicht berührt seien. Diese Einschränkung wirkt sich dann auch auf die Lesart aller weiteren Vertragsartikel aus, die die Stationierung, Erforschung und Entwicklung von ABM–Systemen regeln. Die Unterhändler waren allerdings gründlich und fügten dem Vertrag eine Reihe von einvernehmlich gebilligten Erklärungen hinzu. Wichtig ist vor allem „Erklärung D“. In ihr heißt es, man sei übereingekommen, daß „für den Fall der zukünftigen Entwicklung von ABM–Systemen, die auf anderen physikalischen Prinzipien basieren (...), man über spezifische Begrenzungen solcher Systeme diskutieren“ werde. Falls über sie keine Einigung erzielt werden kann, bleiben sie verboten. In Sofaers Augen ist auch dieser Punkt zweideutig und erlaubt die Entwicklung, wenn auch nicht Stationierung, „exotischer“ ABM–Systeme. Neuinterpretation vertragswidrig Senator Nunn zog für die Analyse des ABM–Vertrags die öffentlichen und geheimen Protokolle und Zusatzdokumente aus den Vertragsverhandlungen selbst und aus den Anhörungen im Senat, der das Abkommen im August 1972 ratifizierte, heran. Die Hearings und die Debatte im Senat, die sich über zwei Monate hinstreckten, haben an keinem Punkt, so Nunn, Belege für die Neuinterpretation des ABM–Vertrags erbracht. Kein einziger Senator und kein Mitglied der Nixon–Administration habe in deren Verlauf geäußert, daß „exotische“ ABM– Weltraumwaffen entwickelt und getestet werden dürften. Im Gegenteil, der damalige Verteidigungsminister Laird habe in einer sogar schriftlich vorgelegten Erklärung die traditionelle Auslegung bestätigt. Die Neuinterpretation durch die Reagan–Administration sei deswegen „nicht glaubwürdig“. Streit um Wörter Aus dem Protokoll der ABM– Verhandlungen geht eine weitere Tatsache deutlich hervor, die die Neuinterpretation erschüttert. Dort ist niedergelegt, wie das Wort „gegenwärtig“ in Artikel II von den Unterhändlern selbst verstanden wurde. Es wurde auf Vorschlag der US–Delegation erst nachträglich eingefügt, um zu untermauern, daß auch zukünftige ABM–Systeme und nicht nur bereits bekannte unter das Verbot fallen. Raymond L. Garthoff, der US–Unterhändler, dem diese Idee eingefallen war, hat dies erst vor fünf Wochen in einem Zeitungsinterview bestätigt. Mehrere Anzeichen deuten inzwischen darauf hin, daß Nunns Fleißarbeit ihren Zweck erfüllt hat und die Versuche zur Aushöhlung des ABM– Vertrages auch in der Regierung als gescheitert angesehen werden. In einem Brief an Nunn räumte er ein, seine Studie vom Oktober 1985 habe auf unvollständigen Materialien beruht, die von einigen jungen Juristen seines Stabs offenbar fehlinterpretiert worden seien. Er bereite eine überarbeitete Version vor. SDI–Budget in Gefahr Unter den demokratischen Parteikollegen Nunns im Kongreß herrscht Einigkeit, daß die Debatte über dieses Thema abgeschlossen sei. Sofaers Eingeständnis sei „peinlich“, sagte ein Sprecher Nunns gegenüber der taz, doch was weiter geschehe, wisse er nicht, denn „der Ball liegt nun in Reagans Feld“. Klar ist aber, daß die Höhe der Haushaltsmittel für SDI im kommenden Jahr von der Reaktion der Administration abhängt. Der Kongreß werde sich nicht zum Komplizen bei der Vertragsverletzung machen, indem er dem Pentagon einen Blankoscheck für SDI ausstelle, sagte ein Senator. Nunn freilich sähe ungern, daß das SDI–Programm, welches er unterstützt, solange es sich im Rahmen des ABM–Vertrags bewegt, in Gefahr geriete. Schließlich ist er zwar einer der führenden Militärpolitiker der Demokratischen Partei, als solcher hat er jedoch dem Reaganschen Rüstungsprogramm in den letzten sechs Jahren über mehr Hürden geholfen als die meisten Republikaner. Der Senator aus Georgia will allenfalls eine andere Rüstungspolitik, nicht jedoch eine weniger aggressive.