Ein Deckel auf die Suppe der Reformer

■ In Chinas Kommunistischer Partei hat der Machtkampf zwar die liberale Kulturpolitik vorerst gestoppt / Alle Beobachter in Beijing gehen aber davon aus, daß es keine Neuauflage der Repression während der „Kulturrevolution“ gibt / Zu Westöffnung und Wirtschaftsreform wird keine Alternative sichtbar

Aus Beijing Jürgen Kremb

„Wie, was meinen Sie, ich verstehe nicht ganz?“ Meinem Gesprächspartner, ansonsten nicht auf den Kopf gefallen, fällt nichts mehr ein, wenn ich ihn zur Kampagne gegen „westlichen Liberalismus“ frage. Ob er meint, daß die sich negativ auf die Wirtschaftsreform und das Leben der Bevölkerung auswirken könnte. „Ah ja, das ist nur, was die da oben betrifft. Mit uns hat das nichts zu tun“, findet er. „Die Westöffnung will und kann niemand mehr rückgängig machen.“ Die Antwort ist keine Ausnahme, sondern eher ein Stereotyp, wenn man in diesen Tagen die Leute auf Beijings Straßen zu den Ereignissen nach den Studentenunruhen im Dezember und dem Sturz des KP–Generalsekretärs Mitte Januar anspricht. In der Tat bietet die Hauptstadt Chinas ein bunteres und pluralistischeres Bild als je zuvor. Frauen wagen mehr Mode und können auch mehr davon kaufen als bei meinem letzten Besuch vor zehn Monaten. In der Nähe des Ausländerviertels ist einer von den Kleidermärkten entstanden, wie sie schon vor drei Jahren im liberalen südchinesischen Guangzhou (Kanton) wie die Pilze aus dem Boden schossen. Einzig hohe Kader haben sicherheitshalber mit dem Maoanzug vorlieb genommen. Das überraschendste Beispiel: Hu Qili, Mitglied des Sekretariats der KPCh. Hu, der sich gern westlich gab, wurde im Fernsehen in den letzten Wochen nur noch im traditionellen Blaumann gesehen. Ganz anders Zhao Ziyang, der amtierende Ministerpräsident und Generalsekretär der KP Chinas. Er demonstriert täglich in Appellen und Reden, mit Schlips und Maßanzug ausstaffiert, daß er zur Westöffnung hält. Wer in diesen Tagen nach Spruchbändern in Beijing sucht, die vor dem „westlichen Liberalismus“ warnen, findet sie nicht. Im Gegenteil: Noch nie schien mir die Hauptstadt so unpolitisch. „Die Chinesen den ken heute nur an sich selbst und ans Geld“, findet ein chinesischer Intellektueller schon fast bedauernd. „Die Leute haben genug von der Politik und wollen endlich ihre Ruhe haben.“ Die „Konservativen“ auf dem Vormarsch Fragt man gut informierte Ausländer nach den erbitterten ideologischen Auseinandersetzungen, die zwischen den Fraktionen der KPCh in den Medien des Landes geführt worden sind, so ist Schulterzucken die Antwort. „Eigentlich standen wir alle im dunklen Wald“, erinnert ein respektierter Journalist. „Das war so etwas wie eine Palastrevolte“, meinen auch viele seiner Kollegen. „Das war ein Machtkampf, wie er in der KPCh immer wieder vorkommt“, findet ein Beobachter. „Damit wurden die Personalentscheidungen für den 13. Parteitag getroffen, der im Oktober ansteht.“ Die erzkonservative Fraktion in der KP, von der man in den vergangenen Jahren annahm, sie sei von Deng Xiaoping längst kaltgestellt, ist wieder in den Vordergrund gedrängt und wird in den nächsten Monaten versuchen, ihre Anhänger in wichtige Ämter zu hieven. Männer wie Deng Liqun oder Bo Yibo, die 1983 hinter der Kampagne „Gegen geistige Verschmutzung“ standen, haben nach Meinung von ausländischen Diplomaten den Propagandaapparat der KPCh fest in der Hand. Doch während vor vier Jahren gegen westliche Kleidung und Verbrechen gewettert wurde und etwa 10.000 Menschen zum Tode verurteilt wurden, müssen diesmal nur die Intellektuellen die Suppe der Politiker auslöffeln. „Da kam eine tief verwurzelte Unzufriedenheit der Konservativen mit der Freiheit zum Ausdruck, die sich die Intellektuellen und Studenten in den letzten Jahren genommen hatten“, erzählt ein Experte aus dem Kulturbereich. „Leute wie die Schriftsteller Liu Binyan und Wang Ruowang standen schon lange unter Beschuß, doch sie glaubten, von den Reformern geschützt zu werden.“ Offenbar halten die Konservativen nach den Demos vom Dezember die Zeit für gekommen, einen Schlußstrich unter die liberale Kulturpolitik zu ziehen. Die Idee: „Laßt 100 Blumen blühen und 100 Schulen miteinander wetteifern“, noch Anfang 1986 euphorisch angepriesen, hat ein jähes Ende gefunden. Kein Marsch in die siebziger Jahre Dennoch warnen Diplomaten davor, den Vormarsch der „Gang der Alten“, wie die auf sozialistische Prinzipien bedachten Konservativen in Anspielung auf die „Vierer–Bande“ jetzt auch genannt werden, als Neubeginn einer ultralinken Politik wie in den Tagen der Kulturrevolution zu interpretieren. Denn die Politiker, die heute in der VR China an den Schalthebeln der Macht sitzen, sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle selbst Opfer der sogenannten „zehn Jahre Wirren“. „Wenn uns auch vorerst schleierhaft ist, wo diese Kampagne endet“, meint ein Diplomat, „eines ist klar: Es gibt keine Neuauflage der Politik der siebziger Jahre.“ Wer allerdings die oft scharfen ideologischen Auseinandersetzungen der letzten Wochen in den lokalen Medien verfolgte, war sich dessen nicht immer sicher. Das Volkserziehungsjournal etwa forderte die Lehrer des Landes auf, „Bücher, die von den vier Prinzipien des Kommunismus (Diktatur des Proletariats, Vorherrschaft der KP, des Sozialismus, des Marxismus–Leninismus sowie die Mao Zedong–Ideen) abweichen, nicht mehr im Unterricht zu verwenden (...) genauso wie schmutziges und pornografisches Material“. Dennoch sind sich die Beobachter in Beijing darüber einig, daß noch nie eine Kampagne im sozialistischen China so kraft– und saftlos über die Bühne ging. Ein Journalist, der von einem Hochschullehrer wissen wollte, was denn jetzt in den Unis passiert, bekam nur ein schlichtes „wir lesen die Dokumente“ zur Antwort. Offen sichtlich gibt es Selbstkritik und Anfeindungen nur innerhalb weniger Kreise der KP. Keine Alternative zur Wirtschaftsreform Dennoch, die gezielte Verjüngungspolitik von Deng Xiaoping ist gescheitert. Die Spitzenkader auf Provinzebene sind zwar im heutigen China durchweg zwischen 50 und 60 Jahre alt, aber mit der Rückkehr der Generation aus dem „langen Marsch“ halten wieder 70– und 80jährige im Politbüro und ZK die Macht in den Händen. Gemeinsam mit ihnen sind auch die alten Militärs aufgetaucht. Guo Linxiang, zweithöchster Politkommissar der historischen Volksbefreiungsarmee, verkündete unlängst, daß China wieder zum Geist des „langen Marsches“ zurückkehren müsse. Beides sind ideologische Ideale aus einer Zeit lange vor der Gründung der VR China. „Auf welchem Niveau die Wirtschaftsreform mit ihnen weitergehen kann“, so findet ein Beobachter in Beijing, „wird sich erst Ende des Jahres zeigen.“ Und ein Vertreter aus der Wirtschaft resümiert: „Wenn heute eine ausländische Firma ihr Büro in China schließt, halte ich das für verfrüht. Wer aber vorerst nicht investiert, den verstehe ich.“ Zhao Ziyang, Premier und KP–Vorsitzender, versucht deshalb, von der Wirtschaftsreform zu retten, was zu retten ist. „Die Reform hat viele Probleme, aber es gibt keine Alternative dazu“, ist der Kern seiner letzten öffentlichen Rede. Seine Kardinallinie, daß die Kampagne sich nur auf die Partei beschränken soll, scheint sich auszuwirken. „Moderates Verhalten ist seit ein paar Tagen wieder angesagt“, finden deshalb jetzt die meisten Diplomaten. „Ich weiß gar nicht, warum sich alle so aufregen“, meint dieser Tage ein Intellektueller zur taz. „Es war doch klar, daß die KP bald wieder den Deckel draufstülpen würde, bevor die Suppe vollends überkocht.“ Seine Meinung ist in letzter Zeit in China oft zu hören. „Was Deng Xiaoping wollte, war nie etwas anderes als bescheidene Reformen unter strenger Kontrolle der vier Prinzipien der Partei.“ Mit der einfachen Einteilung in Reformer und Antireformer werden die Verhältnisse in China kaum noch zu erklären sein. Etwas resigniert fügt er hinzu: „Nicht die Verhältnisse vom letzten Dezember, sondern die repressiven vom März 1987 sind chinesischer Normalzustand.“