SDI - Reagans vielseitiges Angriffsystem

■ Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung begründet, warum Reagans SDI–Programm kaum der Verteidigung dienen kann / Militärisch wären Laserwaffen gegen die „Dritte Welt“ am wirkungsvollsten / Gegen Atombomben im Koffer oder Rucksack können allerdings auch sie nicht schützen

Von Johan Galtung

Die wenigen allgemein zugänglichen Informationen deuten darauf hin, daß Star Wars ein komplexes Programm ist, das Röntgen–, Laser– und Partikelstrahlen umfaßt sowie Strahlenkanonen, die Projektile mit enormer Geschwindigkeit abschießen. Abschußrampen werden zu Lande, vielleicht auch auf dem Wasser, in der Luft, mit Sicherheit aber im Weltraum stationiert, und das in großer Zahl. Es geht nicht um einige Satelliten, sondern um eine Unmenge von ihnen, die auf Erdlaufbahnen kreisen. Wenn Forschung und Entwicklung dieses Systems einen Punkt erreicht haben (und das kann durchaus bereits der Fall sein), wo die Laserstrahlen die Atmosphäre durchdringen können (solange es keine Wolkendecke gibt, die eine Brechung der Strahlen bewirkt), dann kann man leicht entzündliche Gegenstände (und davon gibt es auf der Erde viele) mit sehr viel weniger Energie in Brand setzen oder auch einäschern als man braucht, um eine Rakete zu vernichten. Die Vorteile eines Laserkriegs gegenüber einem Atomkrieg sind eindeutig. Es wird keine Radioaktivität freigesetzt, solange Reaktionen in den Kernreaktoren oder Atombombendepots der sieben Atommächte vermieden werden. Ein schmaler Laserstrahl kann mit beachtlicher Präzision eingesetzt werden, denn der im Weltraum stationierte Satellit könnte ja eine doppelte Funktion erfüllen: eine karographische durch Satellitenfotos und eine destruktive, wenn er Laserstrahlen in das identifizierte Ziel lenkt. Das Pentagon verkündet seit einiger Zeit voller Stolz, die Technik der Satellitenbeobachtung sei jetzt so weit entwickelt, daß man die iranischen Ayatollahs anhand ihrer Bärte einzeln identifizieren könne. SDI: Allwissenheit gepaart mit Allmacht Die Macht Gottes, die die Ungerechten, kollektiv und individuell, mit Feuer straft, wie es in der Bibel steht (4 Mose 16,35). Und ohne jede Vorwarnzeit: Die Rache Gottes trifft den Ungerechten eben weil er ungerecht ist, und nur sein eigenes Gewissen kann ihn warnen. Ein Strahl für den einzelnen, Tausende für den kollektiven Übeltäter, und jeder einzelne Strahl trifft genau sein Ziel oder geht über das Ziel hernieder und läßt Brandspuren hinter sich. Wir sollen nicht über das offenkundige unvorstellbare Angriffspotential reden, das gegenwärtig entwickelt wird. Die Diskussion soll von der Voraussetzung ausgehen, daß Star Wars eine „strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI) ist. Und selbst diese Diskussion wird auf technische Details beschränkt, wobei 100prozentige oder 80prozentige Treffsicherheit weit über das hinausgehen, was landläufig für möglich gehalten wird. Über die naheliegende Reaktion der Sowjets spricht man lieber nicht. Bei einer Treffsicherheit von 80 Prozent werden sie sich natürlich fünfmal soviel Raketen zulegen, um die möglichen Verluste schon vorher auszugleichen. Und bei 100prozentiger Sicherheit - falls das überhaupt denkbar ist, liegt die Reaktion so klar auf der Hand, daß man sie stillschweigend übergeht. Kein potentieller Gegner würde seine Atomsprengköpfe dann noch mit einem so klobigen Gerät wie einer Rakete in das Land bringen, das Laserwaffen besitzt; er würde etwas viel Handlicheres nehmen: einen Koffer oder - die modernere Variante - einen Rucksack. Die USA haben bekanntlich schon derartig ausgerüstete Einheiten, die im Kriegsfall die feindlichen Linien durchbrechen und die (mit elektronischer Fernzündung ausgestatteten) Gefechtsköpfe an strategisch oder taktisch wichtigen Punkten deponieren sollen. Die Sowjetunion hat so etwas natürlich auch. In die Vereinigten Staaten würden solche Sprengköpfe heute wohl kaum über New Yorks Kennedy–Airport eingeschmuggelt werden; eher würde man ein paar von den Chicanos nehmen, die jeden Monat zu Tausenden über die mexikanische Grenze in die USA kommen, oder ein kleines Flugzeug, wie es sich für Drogenschmuggler als außerordentlich nützlich erwiesen hat. Keine große Operation also. Als ich einen SDI–Experten fragte, ob man etwas gegen Koffer tun kann, war die Antwort ein glattes „Nein“. Die gleiche Antwort erhielt ich übrigens, als ich nach Rucksäcken fragte. „Die Maginot–Linie umgehen und in sie hineinrennen“, hat jemand das mal genannt. Als Verteidigung absurd Die Reaktionen auf Star Wars würden, je näher das System der Vollendung kommt, immer mehr das Denkschema durchbrechen, das Star Wars zugrundeliegt: die USA vor etwas zu schützen, das ebenfalls von den Sternen kommt - nämlich vor Raketen. Sie weigert sich, an bekannten Denkmustern festzuhalten. Wahre Dialektik führt häufig in Bereiche außerhalb vorgegebener Schemata, und dialektisches Denken gilt nicht gerade als Stärke der Amerikaner. Tendenziell herrscht dort die Meinung, die Sowjets ständen still, wann immer die USA an neuen „Systemen“ arbeiten. Wenn Washington nun aber Star Wars nicht zum Schutz der Bevölkerung, sondern zum Schutz von Raketen–Abschußbasen einsetzt (in gewisser Weise entspricht das der offiziellen Linie)? Dann würde ein Angriffspotential unverletzlich gemacht. Die Abschußbasen liegen von Land– und Seegrenzen der USA weit entfernt und ich könnte mir vorstellen, daß ein hoher Grad an Effektivität zu erreichen ist, sofern Koffer und Rucksäcke wirksam kontrolliert werden. Es bleibt jedoch die Frage: Warum sollte man das machen, wenn gut geschützte U–Boote das gleiche leisten können, nämlich eine Offensive mit Unverletzlichkeit zu verbinden? Sicherlich erreicht man einen höheren Grad an Unverletzlichkeit, wenn man das gleich noch einmal anders macht - und dieses Argument kann nicht so einfach abgetan werden. Dennoch halte ich es nicht für einen ausreichenden Grund für ein so aufwendiges Unternehmen. Star Wars hat auch eine gewisse defensive Komponente. Man kann sie aber genausogut als Bestandteil eines höchst offensiven Erstschlagpakets ansehen. SDI als Einsatz in Genf Star Wars ist keine strategic defense initiative, sondern eine strategic offense Initiative. Hintergrund der Schmalspur–Diskussion, die wir zur Zeit erleben, ist eine gehörige Gehirnwäsche in Form einer Diskurs–Kontrolle, der sich alle Massenmedien der USA kollektiv unterworfen haben. Das gilt auch für die Wissenschaftler, die bereits nahezu vier Jahre mit nichtigen Diskussionen vergeuden, statt das Unaussprechliche auszusprechen. Auch die Sowjets sind zweifellos schon sehr weit fortgeschritten, obwohl sie sich anscheinend auf die billigere Variante von abwärts schießenden Satelliten konzentrieren (womöglich bereits seit den frühen siebziger Jahren). Und doch wird es die Sowjetunion schwer haben, bei dieser qualitativen Veränderung im Rüstungswettlauf mitzuhalten. Man bedenke, um was für ein immenses Kapital jeder Art es hier geht und daß die USA mehrere reiche Verbündete (insbesondere Japan und die Bundesrepublik) hierfür mobilisiert haben. Andererseits haben die Sowjets bisher durchaus Schritt halten können, wie ein Blick auf die bisherigen qualitativen Sprünge (seit 1945 ein rundes Dutzend) zeigt. Sie versuchen jedoch, Zeit zu gewinnen - in Genf, in Reykjavik und demnächst auch an anderen Verhandlungsorten. Was sich in Reykjavik abgespielt hat entspricht übrigens voll und ganz den obigen Überlegungen. Reagan kam mit der Bereitschaft an den Verhandlungstisch, auf Atomwaffen zu verzichten, um Star Wars zu behalten; Gorbatschow war bereit, auf Atomwaffen zu verzichten, um Star Wars loszuwerden. Daß Gorbatschow meinte, sich damit durchsetzen zu können, möchte ich bezweifeln. Sein hoher Einsatz war eher ein Bluff; schließlich wußte er im voraus, daß die amerikanische Seite letztendlich ablehnen würde - vielleicht nicht Reagan selbst, aber auf jeden Fall Weinberger und Perle. Diese beiden, da konnte Gorbatschow ziemlich sicher sein, würde unbeirrt solange an einer Überlegenheit im Angriff festhalten, bis die andere Seite gleichzieht oder aufgibt - vielleicht weniger aus politisch–militärischen denn aus wirtschaftlichen Gründen. Und so wird es beim nächsten und übernächsten Treffen weitergehen, bis wir die Atomwaffen los sind und uns mitten in einem Wettrüsten von Weltraumsatelliten und Laserstrahlen, Antisatelliten und Antilaserstrahlen wiederfinden. Da wird sich der Optimist freuen, daß er die Atomwaffen los ist. Der Realist wird sagen, das sei mal wieder die alte Geschichte: Wir geben ein Waffensystem bereitwillig auf, wenn wir ein neues bis zur Stationierungsreife entwickelt haben. Der Pessimist wird aber vermuten, daß das neue Waffensystem nicht nur stationiert, sondern auch eingesetzt werden soll, und das auf der Stelle. Das allerdings läßt sich aus dem oben Gesagten nicht schließen. Wer ein Potential zur Einäscherung von Städten, Ländern und einzelnen Menschen besitzt, muß dieses Potential nicht unbedingt nutzen, zumindest nicht sofort und im konkreten, materiellen Sinn. Er wird es aber genau wie die Atomwaffen ständig, jede Minute, als Drohung einsetzen. Aber gegen wen? Nicht unbedingt gegen die Sowjetunion, wenn wir weiterhin von einer Überlegenheit der Vereinigten Staaten aus gehen. Die USA haben nicht nur die Sowjetunion zum Feind; es ist sogar die Frage, ob dieser offizielle Gegner überhaupt der wichtigste ist. Der wichtigste Gegner ist selbstverständlich Japan - das einzige Land, das die wirtschaftliche Hegemonie der USA je ernsthaft in Frage stellen konnte und das meiner Ansicht nach im Rennen um weltweite Märkte für eine breite Palette von Gütern und Dienstleistungen sogar an der Spitze liegt. (Schließlich ist Japan inzwischen weltweit Gläubigerland Nummer Eins, während die USA sich durch das Wettrüsten ökonomisch ruinieren und bereits zum Schuldnerland Nummer Eins geworden sind.) Von den Laserstrahlen haben die Japaner jedoch offenbar wenig zu befürchten; bisher versucht man, sie durch Integration und Handelskriege matt zu setzen. Selbst in das Star Wars– Establishment sollen sie integriert werden, und das werden sie vermutlich zu Industriespionage im großen Stil nutzen. Hauptziel „Dritte Welt“ Nun haben die Vereinigten Staaten aber noch einen dritten Feind: die Armen und Heimatlosen der ganzen Welt. Das ist der Nährboden des Terrorismus, und der hat natürlich seinen Grund, gute Gründe sogar: Den Palästinensern ist ihr Land genommen worden, den Menschen in Mittel– und Südamerika ihr Grund und Boden. Der Terrorismus wird immer moderner, der Staatsterrorismus auch. Erst primitive Schießereien auf Flughäfen, getötete und verstümmelte Zivilpersonen, dann hier und da eine Bombe. Der nächste Schritte wäre der Einsatz von Raketen, bald wohl auch von Atomraketen. Da kann man sich nicht mehr mit einem Aufklärungsapparat begnügen und nur ermitteln; man muß sofort Maßnahmen ergreifen, die den Gegner nicht nur bestrafen, sondern „eliminieren“. Die naheliegende Antwort ist der individuell lenkbare Laserstrahl, das letzte Mittel des Staatsterrorismus, weitaus zuverlässiger als der unbeholfene Angriff auf Tripolis, der Zivilpersonen tötete und verstümmelte und der den offiziell als „tollwütigen Hund“ bezeichneten Ghaddafi doch nicht eliminieren konnte. Stars Wars ist nicht, was es vorgibt zu sein. Es ist auf keinen Fall ein defensiver SDI, zumindest nicht für die Bevölkerung. Es kann zum Schutz von Raketen eingesetzt werden und ist in dieser Funktion wesentlicher Bestandteil einer Zweitschlagskapazität für den Fall, daß die Sowjets einen Erstschlag mit Laserstrahlen starteten oder starten wollten. Star Wars ist aber vor allem ein Angriffsystem, das in einem Erstschlagspaket zwei Punkte abdeckt: die Fähigkeit zu einem verheerenden Angriff und den Schutz ausgewählter Ballungsgebiete (sowie einzelner Elemente des im Abbau befindlichen Atomraketensystems). Der eigentliche Feind ist nicht der offiziell verkündete, der wahre Gegner ist das neue Schreckgespenst, das für die USA den Kommunismus als den Hort des Bösen abgelöst hat: der Terrorismus. Und damit sind wir bei der Frage, wie denn die Terroristen darauf reagieren könnten - einmal abgesehen von der Möglichkeit, unter einer Wolkendecke zu agieren oder irgendwelche Reflexionsapparate zu erfinden, die Laserstrahlen abprallen lassen. Silberkleider für Terroristen? Ein Land mit gottähnlichen Zügen Ökonomisch ist Star Wars der Deckname für einen riesigen Transfer von Mitteln aus dem militärisch–öffentlichen Sektor nicht nur der USA, sondern auch seiner Verbündeten (mit Ausnahme Japans). Das ist reinster Keynesianismus in offiziell anti–keynesianischem Umfeld. Dann der Versuch, die Sowjetunion wirtschaftlich zu schlagen, bis sie aus dem Rennen aussteigt. Politisch gesehen dient Star Wars der Disziplinierung von Verbündeten, die in eine neue „Einmütigkeit“, eine gemeinsame „Verhandlungsposition“ und, mit dem Anreiz wirtschaftlicher Vorteile, in neue Verpflichtungen hineingedrängt werden. Kulturell schließlich füllt Star Wars die Grundmetapher der Vereinigten Staaten von Amerika mit Leben: das Land, das in dieser Welt Gott am nächsten steht. So nahe, daß dieses Land nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, gottähnliche Züge anzunehmen. Übersetzung: Gertrude Krueger