Studie über tote Kälber sorgt für Wirbel

■ „Arche Noah“ legt Ergebnisse ihrer Untersuchung in München vor / Mißbildungen und Totgeburten bei Kälbern aufgrund von Tschernobyl–Verstrahlung erheblich angestiegen

Von Luitgard Koch

München (taz) - „Das einzige, worin sich die Energie der Behörden bisher erschöpft, war, die Studie in der Luft zu zerreißen“, erklärte gestern der Sprecher der oberbayerischen Umweltgruppe „Arche Noah“, Jörg Zimmermann, auf einer Pressekonferenz der bayerischen Grünen. Es geht um die Studie über Kälbersterblichkeit und Totgeburten nach Tschernobyl, von „Arche Noah“ im Zeitraum vom 1. Oktober 86 bis zum 28. Februar dieses Jahres im oberbayerischen Landkreis Miesbach durchgeführt. Sie sorgte für einigen Wirbel. In einer nun erweiterten Fassung der Untersuchung wurden 302 landwirtschaftliche Betriebe mit Vieh von fünf bis 50 Stück und einem kalbungsfähigen Viehbestand von 5.919 Stück einbezogen. Nach wie vor steht fest, daß sich die Todesrate im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt habe. Bei 48 Prozent der totgeborenen Kälber wurde die Besamung im April durchgeführt. Die trächtigen Kühe waren also genau zum Zeitpunkt der Organausbildungsphase der Kälber dem Tschernobyl–Fall–Out ausgesetzt. Etwa acht Prozent der Totgeburten zeigten Mißbildungen, die von völliger Mißgestaltung, wie „Speckkälbern“, bis hin zu verunstalteten Knochen, „Spinnengliedern“ oder zu dicken Gelenken reichten. Als Kontrollgruppe wurden die biologisch–dynamisch orientierten Milchzulieferungsbetriebe der Molkerei Scheitz im oberbayerischen Andechs herangezogen. Diese Kühe, ihre Milchwerte lagen auch zur Zeit der Höchstbelastung unter 15 Becquerel Cäsium 137, wurden nicht wie in anderen Betrieben in der zweiten und dritten Maiwoche auf die Weide getrieben, sondern bis zum Herbst mit unbelastetem Futter versorgt. Dort starben von 214 Kälbern nur fünf: ein Prozent; bayernweit liegt der Prozentsatz für totgeborene Kälber nach Angaben des Landeskuratorium für Tierveredelung bei 3,53. „Selbst geringe Strahlenbelastung kann Treffer setzen“, äußerte sich in einer Erklärung der Lenggrieser Tierarzt Hans Friedrich Opitz, der bei der Studie mitgewirkt hatte. Seit dem Frühjahr 86 habe er gegenüber dem Vorjahr Normabweichungen festgestellt. Auffallend war die Zahl der Kühe, die in den ersten drei Monaten „verworfen“ haben, sowie die Zahl der Mißbildungen und der Kälber, die in den ersten Tagen nach der Geburt starben. Der Physiker Peter Kafka wies darauf hin, daß es auch in Korsika - dort gab es Anfang Mai schwere Regenfälle, die zu vergleichbaren Belastungen wie in Oberbayern führten - eine große Anzahl totgeborener Kälber gab. „Diese Untersuchungen von Miesbach sind meiner Ansicht nach für die Humanmedizin von großer Bedeutung“, betonte auf der Pressekonferenz der Münchener Professor Dr. Herbert Begemann, der sich seit Jahrzehnten mit der Wirkung von niedrig dosierter Strahlung auf die Gesundheit von Menschen beschäftigt. Die medizinische Forschung gehe ja von der Annahme aus, daß die Wirkung bei Wirbeltieren auf die Humanmedizin übertragbar sei. In diesem Zusammenhang verwies er auf eine türkische Studie nach Tschernobyl. Die Zahl der Mißbildungen bei Menschen habe sich an der westlichen Schwarzmeerküste erheblich erhöht. Der Vieh– und Fleischreferent des Bauernverbandes, Josef Wasensteiner, distanziert sich von der „Arche Noah“–Studie: „Wir sind zu der Feststellung gekommen, daß diese Untersuchung unseriös durchgeführt wurde“. Durch das Heranziehen der Vergleichszahlen des Landeskuratoriums der Erzeugerringe, in dem über 50 Prozent der bayerischen Milchleistungsbetriebe registriert sind, und der Gegenüberstellung von Zahlen aus allen ländlichen Betrieben im Miesbacher Raum sei dieser scheinbare Anstieg an Mißbildungen und Totgeburten errechnet worden. „Die kommen auf eine erhöhte Rate, weil sie die Bauern mit Anzeigen in der Zeitung gelockt und ihnen Entschädigung versprochen haben“, ärgert sich Wasensteiner. Außerdem werde mit solchen Aktionen der Zuchtverband Miesbach in Mißkredit gebracht. Im übrigen habe eine „Erhebung in einem begrenztem Raum immer etwas Zweifelhaftes“, wehrt er ab. Daß es sich bei den Tot– und Mißgeburten um Tschernobyl– Folgefälle handle, dafür gäbe es keinerlei Anhaltspunkte. Verblüffung und Dementis kommen auch aus dem Landwirtschaftsministerium. Von Februar 86 bis Februar 87 gäbe es nicht den geringsten Anstieg von totgeborenen Kälbern. Die Rate liege gleichbleibend bayernweit und auch speziell in Oberbayern bei zwei Prozent, so Pressesprecher Schmidt aus dem Landwirtschaftsministerium. Im Landkreis Miesbach sei sie sogar von 1,99 Prozent im Jahr 85 auf 1,73 Prozent für 1986 gesunken.