Die SPD spannt Vogel vor den Karren

■ Personaltrubel: Vogel beerbt Brandt im Parteivorsitz / Lafontaine wird Vogels Stellvertreter / Anke Fuchs löst Peter Glotz als Bundesgeschäftsführer ab / Betroffene Reaktionen auf den Rücktritt Brandts / Jusos ehren den Ex–Parteichef mit einem Fackelzug

Aus Bonn Ursel Sieber

„Mit den Entscheidungen des gestrigen Tages hat die SPD die politische Initiative zurückgewonnen.“ So optimistisch hat gestern Hans–Jochen Vogel die Personalentscheidungen des Parteivorstands bewertet, der ihn am späten Montagabend zum Nachfolger von Willy Brandt, und Anke Fuchs zur Nachfolgerin von Generalsekretär Glotz bestimmt hatte. Das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden sollen Oskar Lafontaine und Johannes Rau einnehmen. Mitte Juni soll auf einem Sonderparteitag endgültig über die Führungsspitze der SPD entschieden werden. Günter Verheugen wird bis dahin Vorstandssprecher der SPD bleiben. Die Pressekonferenz des neuen Parteivorsitzenden gab gestern eher einen Rückblick denn einen Blick nach vorn. Vogel meinte, der SPD–Vorstand habe am Montag „seine Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt“. Die Entscheidungen zeigten, daß die Partei an einem Kurs festhalte, „der Kontinuität und Erneuerung miteinander verbindet“. Kontinuität werde insbesondere durch Johannes Rau gewährleistet, der seine Entschlossenheit deutlich gemacht habe, „seine Führungsaufgabe in der Spitze unserer Partei unverändert wahrzunehmen“. Auf die Frage, ob er sich als „Übergangsvorsitzender“ begreife, sagte Vogel, er wolle „weder zeitliche Mindestgrenzen noch zeitliche Höchstgrenzen einführen“. Er wird auch statt Brandt den Vorsitz der Programmkommission übernehmen. Zum Rücktritt Brandts sagte Vogel, damit gehe die Amtszeit eines Mannes zu Ende, der die Entwicklung „unseres Gemeinwesens“ und „seiner Partei“ in „unvergleichlicher Weise geprägt“ und sich dabei „historische Verdienste“ erworben habe. Eine scharfe Rüge richtete Vogel an diejenigen, die die Berufung von Margarita Mathiopoulos durch Brandt kritisiert hatten: Es habe „undisziplinierte, teilweise sogar beschämende Äußerungen gegeben, die geeignet waren, Willy Brandt persönlich zu verletzen“. Die Sprecherinnen der grünen Bundestagsfraktion, Bärbel Rust und Waltraud Schoppe, kritisierten das SPD–Personalpaket: Es bleibe „fragwürdig“, ob die SPD mit Vogel und Fuchs an der Spitze zu einer Erneuerung kommen könne. Im Gegenteil: Damit lege sich die SPD „auf das bürokratische Verwalten der Bedürfnisse der Menschen von oben fest“. In der SPD hatte der Rücktritt Brandts wie ein Schock gewirkt. Der Berliner SPD–Sprecher Wiegreffe würdigte den Abgetretenen als „wirksamsten sozialdemokratischen Führer seit August Bebel“. Der stellvertretende baden–württembergische SPD–Chef Uli Maurer meinte, die Deutschen würden sich Brandts Kanzlerschaft noch einmal „als ihrer besten Zeit in diesem Jahrhundert erinnern“. Aus Bayern rief Rudolf Schöfberger dem Scheidenden nach, „der zweitrangige Vorgang um die Bestellung einer Pressesprecherin ist dieses Opfer nicht wert gewesen.“ CDU und CSU werteten Brandts Aufgaben übereinstimmend als Ausdruck für den desolaten Zustand der SPD. FDP–Generalsekretär Haussmann beklagte das „ebenso traurige wie unwürdige Ende“ eines international renommierten Politikers. Im Ausland reagierte insbesondere die polnische Regierung mit Betroffenheit. Brandt sei der Architekt der Entspannungspolitik gewesen, „der den Mut hatte, vor dem Denkmal der Helden des Ghettos in Warschau niederzuknien“. Kommentar auf Seite 4