Bundschuh zwingt Daimler in die Knie

■ Bundesverfassungsgericht entscheidet: Das von der baden–württembergischen Landesregierung zugunsten des Konzerns betriebene Enteignungsverfahren gegen Bauern ist rechtswidrig / Boxberg–Teststrecke kann nicht gebaut werden / Kommt eine „lex Daimler“?

Aus Karlsruhe Felix Kurz

Die geplante Daimler–Benz–Teststrecke kann nicht gebaut werden. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entschied gestern, daß das von der Landesregierung und dem Automobil–und Rüstungskonzern Daimler–Benz betriebene Enteignungsverfahren zahlreicher Bauern aus den Gemeinden Boxberg und Assamstadt zugunsten der Teststrecke verfassungswidrig sei (Akt.–Z.: 1 BvR 1046/85). Das BVerfG kassierte mit seiner Entscheidung zahlreiche vorinstanzliche Urteile bis hin zum Bundesverwaltungsgericht, in denen die im „Bundschuh“ zusammengeschlossenen Landwirte bisher gegen den scheinbar übermächtigen Gegner immer unterlegen waren. „Damit wird unser neunjähriger Kampf doch noch erfolgreich“ sagte Bundschuh–Bäurin Dora Flinner, die heute für die Grünen im Bundestag sitzt. Mit neun Verfassungsbeschwerden hatten die Bundschuh– Bauern sich gegen die Enteignung ihrer Grundstücke zugunsten der Stuttgarter Konzerngewaltigen gewehrt. Im Rahmen einer sogenannten Unternehmensflurbereinigung versuchten Landesregierung und Daimler–Benz, sich das für ihre Teststrecke notwendige Prüfgelände zu verschaffen. Damit sollte zunächst der Staat in den Besitz der Grundstücke der verkaufsunwilligen Bauern gelangen, danach wäre das unter dem Vorwand der Flurbereinigung enteignete Land dem Konzern zugeschustert worden. Dieser Plan war bereits durch das Bundesverwaltungsgericht in Berlin abge segnet worden. Dabei berief sich das Berliner Gericht auf das Bundesbaugesetz. Dieses Verfahren bewerteten die Verfassungsrichter explizit als verfassungswidrig. Weder das Bundesbaugesetz noch das Flurbereinigungsgesetz noch andere Vorschriften, so der Erste Senat in seiner Urteilsbegründung, könnten dazu herangezogen werden, die Bauern zugunsten eines privaten Unternehmens zu enteignen. „Die Anordnung der Flurbereinigung zur Verwirklichung der in den Bebauungsplänen ausgewiesenen Teststrecke“ stehe mit dem Grundgesetz nicht im Einklang. Das folge zwar nicht schon allein daraus, daß „die enteignende Wirkung zugunsten eines Privaten“ eintrete, ausschlaggebend seien hier andere Überlegungen. „Eine Enteignung zugunsten Privater, bei der Eigentum zwangsweise von einem Staatsbürger auf den anderen Staatsbürger übertragen werden soll, die nur mittelbar dem Allgemeinwohl dient und die in erhöhtem Maße der Gefahr des Mißbrauchs zu Lasten des Schwächeren ausgesetzt ist, wirft jedoch besondere verfassungrechtliche Probleme auf“, meinte der Senat. So dürfe gerade bei einer Enteignung zugunsten eines Privaten nicht außer acht gelassen werden, daß dieser „im Regelfall“ eigene Interessen unter Nutzung der ihm von der Rechtsordnung verliehenen Privatautonomie verfolge. Deshalb müsse der Gesetzgeber erst einmal „unzweideutig entscheiden“, „ob und für welche Vorhaben“ eine solche Enteignung statthaft sein solle. Desweiteren „muß“ für die Verfassungsrichter gewährleistet sein, daß der im Allgemeininteresse liegende Zweck der Maßnahme „erreicht und dauerhaft gesichert wird“. Nur dann fordere das Allgemeinwohl Enteignung. Fortsetzung auf Seite 4 Darüber hinaus bedarf es nach Auffassung des 1. Senats „differenzierter materiell– und verfassungsrechtlicher Regelungen“, die sicherstellen, daß den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz im „Interessendreieck Gemeinwohl–Enteigneter–Begünstigter“ im Einzelfall Rechnung getragen und insbesondere die Erforder lichkeit der Enteignung sorgfältig geprüft wird. „Dazu ist eine gesetzlich vorgesehene effektive rechtliche Bindung des begünstigten Privaten an das Gemeinwohlziel notwendig“, hieß das Urteil. Gänzlich mochten die Verfassungsrichter eine Enteignung zugunsten Privater für ein solches Großprojekt nicht ausschließen. Dem Gesetzgeber bliebe nach Meinung des Senats die Möglichkeit, ein auf ein bestimmtes Projekt bezogenes Gesetz zu erlassen, wenn er dieses für durchsetzungsbedürftig hält. Ob es allerdings eine Lex Daimler in Baden–Württemberg für eine Teststrecke geben wird, läßt sich derzeit nicht ausmachen. Die Landesregierung hat angekündigt, über eine entsprechende Gesetzesinitiative beraten zu wollen. Daimler–Benz hat in einer ersten Stellungnahme erklärt, daß man sich möglicherweise um ein anderes Gelände im In– oder Ausland umsehen werde. Noch im Verfassungsgericht kam es zwischen den strahlenden Bundschuh–Bauern und Befürwortern der Teststrecke zu heftigen Wortgefechten. Dora Flinner meinte dazu gegenüber der taz: „Jetzt müssen wir bei uns Wachmänner einstellen“. Ihr habe man schon angedroht, ihren Hof niederzubrennen. Als eine „vernichtende Niederlage für das Machtkartell zwischen Landesregierung und Daimler–Benz“ hatte die Landtagsfraktion der baden– württembergischen Grünen das Urteil begrüßt. Der Richterspruch sei eine „schallende Ohrfeige für die große Koalition von SPD, FDP und CDU“, die „willfährig den Industrieinteressen die Vorfahrt gelassen habe“.