Abgrundtiefe Betroffenheit

■ Am Ende des historischen Moments im SPD–Hauptquartier sind sie alle naß: die einen von Tränen, die anderen vom Regen

Es ist Montag abend, kurz vor 22 Uhr, das denkwürdige Bild vom Ende des Neu–Anfangs: Die gerade eben designierte Bundesgeschäftsführerin der SPD, Anke Fuchs, steht im Regen, triefnaß und allein, vor dem Ollenhauer– Haus. Ansprechen braucht man sie nicht. Seit ihrer Nominierung durch den Parteivorstand wiederholt sie mit freundlichem Gesicht immerzu den gleichen Satz, der ihr mehr und mehr zur Beschwörungsformel gerät: „Wir stehen am Anfang einer neuen, disziplinierten Fahrt und die werde ich nicht gleich mit Undiszipliniertheiten beginnen.“ Undiszipliniert wäre es, wenn sie eine persönliche Einschätzung der Ereignisse mitteilte, „denn ich bin ja nur der neue Bundesgeschäftsführer beziehungsweise den Frauen zuliebe auch die neue Bundesgeschäftsführerin“. Der neue Vorsitzende wird Hans Jochen Vogel heißen - aber auch er zieht sich zurück. Das Wort hat an diesem Abend, noch einmal?, Johannes Rau. Der Brandt–geschädigte NRW–Ministerpräsident wirkt, als empfinde er einen leichten Anflug klammheimlicher Freude darüber, der Moderator dieses Rücktritts und der neuen Nominierungen sein zu können. Aber an so Böses denkt an diesem Abend natürlich niemand: Würde und, immer wieder, Betroffenheit sind angesagt. Tatsächlich ist Rau wohl auch nur deshalb so gelöst, weil drinnen im Vorstand „eine der besten Diskussionen läuft, die wir je hatten“, wie Karsten Voigt gegen 21 Uhr einem besorgt im Foyer wartenden Juso versichert. Während noch die Gerüchte köcheln, wer für wen und warum votiert hat, beginnt schon die Legendenbildung. So war das Glotz sei für Lafontaine gewesen. Lafontaine habe sich nicht eindeutig für seine eigene Kandidatur ausgesprochen. Schon am 13. Februar haben sich Rau, Brandt, Glotz, Vogel und Lafontaine auf Vogel als Parteivorsitzenden geeinigt und Margarita Mathiopoulos habe schon am Sonntag von Brandts Rücktritt gewußt,sich selbst aber erst am Montag punkt 14 Uhr entschieden, das Sprecherinnenamt nicht anzunehmen. Viele, die in Hut und Mantel, mit Block und Bleistift im Foyer der „Baracke“ herumlauschen, haben alles eigentlich schon gewußt. Trotzdem stürzt sich der Journalistenpulk immer wieder aufs neue auf jeden, der aus der Vorstandssitzung herauskommt oder von dem man wenigstens vermutet, daß er mit jemandem gesprochen hat, der drinnen war. Der Chefredakteur des Vorwärts, Gode Japs, ist so ein Star und kann seine Kollegen immer wieder aufs neue über den „Verrat nach Norderstedt“ am Wochenende aufklären: dort noch hätte es geheißen, „Willy ist der Boss“, alle stehen geschlossen hinter ihm und dann... Während eine Hundertschaft Jusos - angereist aus Wuppertal - „Willy, Willy“ skandiert, informiert Erhard Eppler, halbvertraulich und viel zu leise, ein Dutzend Journalisten, warum es sinnvoll war, für den Parteivorsitz „keinen Linken aufzustellen, der dann sofort von rechten Querschlägern demontiert wird“. „Willy, Willy“ Und weil der Mensch ein Mensch ist...“ Die Jusos vertreiben sich die Zeit zwischen ihren Sprechchören mit dem Absingen von Arbeiterliedern. Ein Transparent ist entrollt worden: „Es ist eine Schande“, und als sich Hans Apel kurz im Foyer blicken läßt, brandet ihm entgegen: „Wer hat uns verraten...“ Rechte Sozialdemokraten - da sind sich die Angereisten sicher - haben den Coup von langer Hand vorbereitet. „Die Basis möchte eine MP“ zischt eine. Statt dessen bekommt die Basis Peter Glotz, der Willy Brandts „Dank an die lieben Freunde“ übermittelt und um Verständnis dafür bittet, daß der noch amtierende Vorsitzende „die Bewegung, die er in diesem Kreise hier zeigen würde, nicht öffentlich zur Schau stellen möchte“. Brandt bleibt auch den Rest des Abends weg, die Jusos bleiben, jetzt nicht nur kämpferisch, sondern auch noch gerührt, da. Als Volker Hauff einmal kurz nach draußen tritt, wechseln sie von „Willy, Willy“ auf „Volker, Volker“. Etwas später stehen sie schweigsam und besorgt um Gerhard Schroeder herum, der, Tränen in den Augen, die neugierigen Frager anblafft: „Nun respektieren Sie doch mal, daß ich nichts sagen kann und will!“ um dann, nach fünf schweigsamen Minuten wieder in den abgeschotteten Trakt zu gehen. Die zahlreichen Thermoskannen sind längst leer, die Küche, die schon seit dem frühen Nachmittag die Wartenden mit Nachschub versorgt hat, ist geschlossen. Da keimt bei den Journalisten, von denen nicht wenige am Nachmittag noch selbst gerührt waren, der Zynismus wieder auf: „Der Vogel bestellt jetzt erstmal eine neue Garnitur Aktenordner“, witzelt einer, und ein anderer, der seit Stunden erfolglos versucht herauszubekommen, warum Lafontaine nun doch nicht für den Vorsitz kandidiert hat, befürchtet, daß „die Politik wirklich so banal ist, wie wir das immer berichten“. Überlegungen, die Johannes Rau dann unterbricht: Auch die letzte Personalentscheidung ist getroffen. Anke Fuchs soll neue Bundesgeschäftsführerin werden, Günther Verheugen den Sprecherposten bis zum Sonderparteitag im Juni weiterhin kommissarisch betreuen: „Ansonsten haben wir die Schnauze voll von Personalquerelen.“ Und am Ende des Abends im Ollenhauer–Haus sind sie alle naß: die einen von Tränen, die anderen vom Regen. Oliver Tolmein