G A S T K O M M E N T A R Charisma und Demokratie

■ Zur Begründung Willy Brandts vor dem Parteivorstand

Wenn einer ein Zeichen setzen will, muß er wissen, ob dieses Zeichen auch verstanden wird. Charismatische Zeichen leben von ihrer unmittelbaren Einsichtigkeit als sprechende Antwort auf die zeitgemäßen Herausforderungen. Willy Brandt mußte ahnen, daß er mit der Wahl von Margareta Mathiopoulos nicht auf der Antenne sendete, die die derzeitige Befindlichkeit der SPD ausdrückt. Während er „Liberalität“, „generationsmäßige Erneuerung der SPD“, das Ringen um die Frauen und die „parteilosen Sozialdemokraten“ im Auge hatte, herrschten um ihn Bunkermentalität und die Wadenbeißersyndrome einer Übergangsetappe. Das Zeichen sprach trotzdem, aber nicht für sich selbst, sondern nur für den Zustand seiner Partei. Aufstand des Spießertums“, „geistige Enge und Anspruchslosigkeit“ hat Brandt jene Verfassung genannt, an der er gescheitert ist. Die versammelte „Inzucht“ des Ruhrgebietsmilieus, die auf „rülpsende Weise“ „schreckliche Briefe“ schreibt. Daß er dies nicht mehr erträgt, gibt seinem Rücktritt den Anflug von Stolz, der ihn zum Befreiungsschlag macht. Es gibt schlechtere Anlässe als diesen, auch wenn dem Vorwurf des Putschversuchs der Wunsch an der eigenen Legendenbildung zugrundeliegen mag. Spannend aber ist die Frage, wie es denn anders gehen könne mit der programmatischen und personellen Erneuerung der SPD. Was tatsächlich ansteht, ist die Entwicklung einer demokratischen Kulturrevolution in der Partei. Wie die Dinge stehen, muß dies ein langer Prozeß sein, in der die klassisch sozialdemokratische Kultur des Parteisoldatentums nicht unbeschädigt erhalten werden kann. Gerade die aber hatte Willy Brandt eingefordert, als er Zustimmung zu genau jener einsamen Entscheidung forderte, die bei freier Wahl niemals akzeptiert worden wäre. Die Zeit der Charismatiker und der Indianerzeichen ist vorbei. Was ansteht, ist die parteiinterne Debatte, die das Bewußtsein der sozialdemokratischen Stammwähler langsam verändert. Antje Vollmer (Abgeordnete der Grünen im Deutschen Bundestag)