AKWs als Dealer–Treffs

Computerspezialist K.G. Hensley hatte genau zwei Stunden an seinem neuen Arbeitsplatz im Atomkraftwerk Shearon Harris verbracht, als ihm ein Arbeitskollege schon einen guten „Deal“ anbot: Kokain im Wert von hundert Dollar wechselte den Besitzer. Zwanzigmal kaufte Hensley in den folgenden acht Wochen Marijuana, Haschisch und Kokain von seinen Arbeitskollegen - im Kontrollraum, beim Sicherheitspersonal und bei den Technikern. Dann gab er sich als Agent im Auftrag des Sheriffs der Kreisbehörde zu erkennen, und acht seiner Kollegen wurden wegen illegalen Drogenhandels festgenommen. Dies ist kein ungewöhnliches Vorkommnis: 1985 allein wurden der US–Atomaufsichtsbehörde (Nuclear Regulatory Commission, NRC) 120 Drogenvorfälle, in die fast 1.000 Angestellte von Atomkraftwerken verwickelt waren, gemeldet. Die von dem Verbraucheradvokaten Ralph Nader gegründete Organisation „Critical Mass Energy Project“ veröffentlichte Ende Februar eine Studie über Drogenmißbrauch in ameri kanischen Atomkraftwerken. „Die meisten Menschen sind der Ansicht, daß Atomkraftwerke von nüchternen Technikern in weißen Kitteln betrieben werden“, so Joshua Gordon, Autor der Studie. „In Wahrheit werden sie jedoch von zu vielen Menschen betrieben, die regelmäßig am Arbeitsplatz trinken oder unter dem Einfluß von Drogen stehen.“ Zu den der NRC gemeldeten Vorfällen gehören Handel mit Drogen am Arbeitsplatz, das Rauchen von Marijuana und nicht zuletzt ein neben seinem Joint bewußtlos aufgefundener Mitarbeiter. Drei Marijuanapflanzen, die auf dem Gelände von Three Mile Island entdeckt wurden; Kokain im Wert von 150.000 Dollar, das Undercover–Agenten im Diablo Canyon–Atomkraftwerk erwarben - der Umgang mit Drogen und Atomkraft scheint vielerorts zusammenzugehören. Und doch, das gibt sogar die NRC zu, handelt es sich bei den gemeldeten Fällen lediglich um die Spitze des Eisbergs. Eine Meldepflicht gibt es nicht, und es ist anzunehmen, so Gordon, daß Atomkraftwerksbetreiber Vorfälle lieber nicht melden, um sich die Kontrollbehörde vom Hals zu halten. Die NRC hat die Überwachung von Drogenproblemen in Atomkraftwerken einer privaten Organisation überlassen, die Atomindustrie reguliert sich in diesem Punkt also selbst. Die von dieser Organisation erlassenen Richtlinien sind unbestimmt, werden nicht durchgesetzt, und die Programme zur Bekämpfung des Drogenproblems sind von der Öffentlichkeit und in vielen Fällen selbst von der NRC nicht überprüfbar. Edward Bomsey, der für die Erstellung der Richtlinien verantwortlich ist, fragt voller Sorge: „Was wäre passiert, wenn die Kontrollraumangestellten von Three Mile Island bei der Havarie des Reaktors unter Drogeneinfluß gewesen wären? Was dann?“ Drogenmißbrauch kann einen Unfall zum Ernstfall werden lassen, befürchten die Autoren der Nader–Studie, denn fast allen Unfällen liegt menschliches Versagen zugrunde. 5.400 „Vorfälle“ wurden der NRC in den hundert kommerziellen Atomkraftwerken der USA für die Jahre 1984 und 1985 gemeldet. Darunter waren 18 „ungewöhnliche Vorfälle“, Unfälle, die als „in Risiko für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit“ definiert werden und die alle auf menschliches Versagen zurückgeführt werden konnten. Über 750 der für 1984/85 gemeldeten Vorfälle führten zu Notabschaltungen der Kraftwerke, von denen ein Drittel unbeabsichtigt war und entweder auf Computer– oder menschliches Versagen zurückgeführt werden konnte. Während einer Notabschaltung werden die Reaktoren enorm beansprucht: Nach NRC–Zahlen treten etwa zwanzig Prozent aller Störungen von Kraftwerkskomponenten im Anschluß an eine Notabschaltung auf. Atomkraftgegner in den USA warnen in jüngster Zeit auch wieder vermehrt vor technischen Mängeln der Reaktoren: Im Februar forderte die Organisation „Union of Concerned Scientists“ die NRC auf, alle Druckwasserreaktoren vom gleichen Bautyp wie der Unfallreaktor von Three Mile Island abzuschalten. Die von der Firma Babcock und Wilcox gebauten acht Reaktoren seien „die gefährlichsten aller Druckwasserreaktoren“, so die Autoren der Studie. Sie seien bei einem Stromausfall besonders schwer kontrollierbar. Auch der Absturz der Raumfähre Challenger vor über einem Jahr wirkt sich auf die US–Atomindustrie aus: Kritiker warnen, daß die in einem Atomkraftwerk zahlreich vorhandenen Dichtungs–Ringe, deren Versagen die Explosion der Raumfähre verursachte, einem Reaktorunfall auch nicht standhalten würden. So ist es um die US– Atomindustrie nicht gut bestellt dieser Tage. In einer jüngst veröffentlichten Studie des Energieministeriums wird als Ziel angegeben, die USA auf dem Energiesektor weitgehend autark zu machen. Zu diesem Zweck sollen in erster Linie amerikanische Erdöl– und Erdgasvorkommen entwickelt werden. „Die Zukunft von Atomkraft“ jedoch, so die Studie, „ist ungewiß.“