Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück

■ Chinas Volkskongreß streitet um zukünftige Wirtschaftspolitik / Aus Beijing Jürgen Kremb

Seit dem erzwungenen Rücktritt des Parteichefs Hu Yaobang im Januar rätselt das Ausland, ob die Politik der Reformen und die Öffnung zum Westen in China noch weiter verfolgt werden. Entsprechend gespannt verfolgen ausländische Wirtschaftsvertreter im Moment die Diskussion auf dem jährlich stattfindenden Volkskongreß in Beijing (Peking). Obwohl nach außen die Kontinuität des einmal eingeschlagenen Kurses betont wird, ist eine Drosselung der Investitionen bereits unverkennbar.

Die Atmosphäre ist dazu angetan, einen tiefen Eindruck von Chinas gewaltiger Größe und den damit zusammenhängenden Problemen zu vermitteln. Schwenkt die Kamera der chinesischen Fernsehanstalt in diesen Tagen bei der Berichterstattung aus der „Großen Halle des Volkes“ ab vom Hauptredner, und schweift langsam über die Delegierten, so scheint es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder zum Ausgangspunkt zurück kommt. Genau 2.719 Abgeordnete aus allen Teilen Chinas haben sich seit Mittwochmittag in Beijing zur diesjährigen Sitzung des chinesischen Parlaments für 16 Tage zusammengefunden. Recht anteilslos blättern alle brav in den vorliegenden Redetexten mit. Der Jahresbericht von Premier Zhao Ziyang umfaßte immerhin 20.000 chinesische Schriftzeichen und dauerte drei Stunden. Die Vertreter der Minderheiten hören die Debatte meist über Kopfhörer mit, der eine Simultanübersetzung liefert. Denn die wenigsten von ihnen sprechen perfekt das hochchinesische Mandarin. In der Vergangenheit hatte der Volkskongreß die Funktion, lediglich die Linie der kommunistischen Partei Chinas und der Regierung abzusegnen. Die eigentliche Politik wurde vom ständigen Ausschuß des Parlaments gemacht, der zwischen den jährlichen Treffen die Amtsgeschäfte führt. Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert. Mit Peng Zhen, Jahrgang 1902, steht dem Gremium ein neuer Mann vor, der die Rückkehr der alten konservativen Puristen aus den Tagen des langen Marschs in die Führungsetagen der Macht anzeigt. Seit der Sitzung des sechsten Volkskongresses haben die Abgeordneten ferner wie nie zuvor, die Möglichkeit, eingebrachte Gesetze abzulehnen und selbst Gesetzesvorlagen einzubringen. Bei dem diesjährigen fünften Plenum des sechsten Volkskongresses werden deshalb allgemein heftige Diskussionen zum Fortgang der volkschinesischen Wirtschaftspolitik der Reform und Westöffnung erwartet. Den Rahmen dafür hat der Ex– Bürgermeister von Beijing, Peng Zhen, schon Ende letzten Jahres mit dem Startschuß zur Kampagne gegen den „bürgerlichen Liberalismus“ geliefert. Nur unter Beibehaltung sozialistischer Reinheit soll die Wirtschaftsreform fortge setzt werden. Doch wie weit werden die nächsten 14 Tage klären müssen. Daß die Befürworter einer forcierten Westöffnung um Zhao Ziyang aber wieder an Boden gewonnen haben, zeigte der Jahresbericht des Premiers für 1986, den er schon am Mittwoch vortrug. Selbstbewußt wie selten zuvor seit dem Rücktritt von Partei–Generalsekretär Hu Yaobang im Januar plädierte Zhao für einen weiteren Ausbau der Reform. Als Haupterfolg im Jahre 1986 wertete er, daß die überhitzte Wirtschaftsentwicklung aus den Jahren 1984 und 1985 auf ein vernünftiges Maß reduziert worden sei. Für die nächsten Jahre entwickelte Zhao einen Sieben–Punkte–Plan, mit dem die Wirtschaftsreform weiter forciert werden soll. Kernpunkt darin ist der Ausbau eines mehr marktorientierten Bankensystems in dem sozialistischen Staat. Außerdem sollen die Staatsunternehmen mehr Entscheidungsfreiheit enthalten, sowohl was den finanziellen Rahmen als auch was die Anstellung von Fachkräften anbelangt. Ob aber dieses System von „Hire and Fire“ die konservative Hürde überspringt, ist mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. Selbstsicherer Premier Daß die Reformer wieder an Boden gewonnen haben, zeigt auch der erste öffentliche Auftritt von Ex–Partei–Generalsekretär Hu Yaobang seit seinem Sturz. Freundlicher Beifall begrüßte ihn, als er auf seinem Platz als Mitglied des Präsidiums eintraf. Ironischerweise saß er genau über Premier Zhao Ziyang, als dieser seine Rede hielt. Er war flankiert von zwei alten Militärs. Aus deren Reihen, so glauben Beobachter, kam im Januar die Hauptkritik an Hu. Der Bericht von Finanzminister Wang Binqian war freilich wenig dazu angetan, den Reformern zur Pluspunkten zu verhelfen. Angesichts eines Handelsdefizits von 7,08 Milliarden Renminbi (3,5 Milliarden Mark) und einem zu hektischen Wachstums von 9,2 Prozent rief er zum Sparen auf. „Aus dem Finanzbericht wird jetzt so mancher Prügel geschnitten“, meinte ein westlicher Diplomat dazu, „mit dem man in den nächsten Tagen auf den Reformern herumdreschen wird.“