Alice lebt doch hier

■ Vermeintliche AIDS–Tote wehrt sich vergeblich Auch ein ärztliches Attest half ihr nicht weiter

Berlin (taz) - „Was, Du lebst noch?“ Marlies M., Wahlnahme „Alice“, weiß nicht mehr, wie häufig sie die ungläubige Nachfrage am Telefon über sich ergehen lassen hat. „Ja. Und ich bin auch nicht AIDS–Krank.“ Nachdem die Seesener Tageszeitung Beobachter den ersten AIDS– Toten im Landkreis Goslar gemeldet hatte, wollte das Gerücht um „Alice“ tragisches Ende im Harz nicht mehr verstummen. Das Geschäft der Prostituierten war ruiniert. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der erste Bericht über den Einbruch von AIDS in den Landkreis die Menschen berunruhigte, kurierte Marlies M. im Kreiskrankenhaus einen Handgelenkbruch aus. Ein Arzt war der Immunschwäche erlegen, Name, Beruf und Geschlecht des Opfers in dem Bericht selbstverständlich anonymisiert. Doch der durch keinerlei Untersuchung begründete Hinweis auf Prostituierte als angebliche Risikogruppe, machte die Quelle der Fama unversiegbar. Nach sieben Wochen geheilt entlassen, wurde das Wiedererscheinen für Marlies M. in der Kleinstadt zur Rückkehr aus dem Totenreich. Doch auch nachdem sie den Seesenern beim Samstagseinkauf wieder leibhaftig erschienen war, blieb die Gerüchteküche nicht kalt. Wenn schon nicht tot, so will die Mär jetzt wenigstens, daß sie HIV–infiziert ist. Auch der Weg auf die Polizeiwache, wo die auf einen guten Ruf angewiesene Prostituierte wegen der „üblen Nachrede“ Anzeige gegen Unbekannt erstattete, brachte ihr die verlorengegangene Stammkundschaft nicht wieder. „Von da an“, bestätigt ihr Freund, „verdiente sie praktisch keinen Pfennig mehr.“ Seit vierzehn Tagen ist Marlies M. wieder im Krankenhaus. Die Verleumdungen der letzten Wochen überforderten ihre Nerven. Falsch Zeugnis wider den Nächsten redet man jetzt auch im benachbarten Kreiensen. „Sonja und Ines“, die ebenfalls in einem Privatclub ihre Freier empfangen, versuchen sich jetzt mit einer Anzeige im lokalen Sonntagsblatt „Eule“ zu wehren. Die in ihrer ökonomischen Existenz gefährdeten Frauen drohen den bösen Zungen mit juristischen Konsequenzen: „Jede Person, die das Gerücht verbreitet, ich sei an AIDS gestorben, wird sofort angezeigt. Meine Kollegin und ich erfreuen uns bester Gesundheit. Wir stehen unter ständiger ärztlicher Kontrolle. Attest einsehbar.“ k.k.