In der UdSSR soll eine Justizreform mehr Rechtssicherheit bringen

■ Ohne Rechtssicherheit muß jede Demokratisierung Stückwerk bleiben / Die Position der Anwälte soll gestärkt und ein Oberster Gerichtshof geschaffen werden / Mangelnde Rechtskultur nicht nur bei den Mächtigen

Aus Moskau Sven Sjoegren

Wenn in Stuttgart oder London ein junger Mensch straffällig geworden ist - Rauschgifthandel oder Diebstahl sind ihm nachgewiesen - so wird sein Vater vor allem für einen guten Anwalt sorgen. Anders in Moskau. Dort wird der Papa sich vor allen Dingen entweder nach einem persönlichen Bekannten oder nach einem Mittelsmann zu irgendeiner prominenten Persönlichkeit - vielleicht aus Kunst oder Wissenschaft - umsehen, die es für den Fall zu interessieren gilt. Von dieser wird dann erhofft, daß sie sich an einen guten Bekannten irgendwo im Justiz– oder Polizeiwesen wenden, um über diesen die Untersuchungsbeamten zu veranlassen, ihre Nachforschungen einzustellen. Dergleichen Fürsprache führt nicht selten zum Erfolg. Das wesentliche an diesem Vorgang ist nicht die protektionistische Schiebung, die auch in anderen Staaten vorkommt. Charakteristisch ist vielmehr, daß Versuche dieser Art unter allgemeiner Sympathie und im vollen Einvernehmen aller eingeweihten und ihres keineswegs auf Diskretion bedachten Freundes– und Bekanntenkreises stattfinden. Niemand hat ein Unrechtsbewußtsein und findet etwas dabei, daß hier jemand „seinem gesetzlichen Richter entzogen“ werden soll. Nicht einmal der gestoppte Untersuchungsbeamte, dem das meist ganz normal vorkommt (erst recht, wenn für ihn ideel oder materiell etwas dabei herausspringt), ist düpiert. Wie allen anderen leuchtet ihm ein, daß mit der Justiz nicht gut Kirschenessen und daher das Bestreben ganz begreiflich ist, sich ihr zu entziehen. Das einzige, was ihn wirklich stört, ist die negative Rückwirkung auf seine „Aufklärungsquote“ - die muß er also anderweitig wieder wettzumachen suchen. Die Mißstände im sowjetischen Rechtswesen sind keineswegs nur das Ergebnis absichtsvoller Rechtsbeugung „von oben“, sondern von mangelnder Rechtskultur „oben“ wie „unten“ zugleich. Man übertreibt wohl kaum mit der Feststellung, daß es in der Welt kein anderes Land gibt, in dem Gesetze von buchstäblich jedermann so mißachtet werden wie in der UdSSR - „vom Arbeiter bis zum Minister“. Beide, Arbeiter wie Minister, setzen alles daran, sich möglichst geschickt ums Gesetzbuch herumzudrücken, von dessen Inhalt beide nur sehr verschwommene Vorstellungen haben. Nicht zuviel Gesetzesstrenge, sondern zuviel „Straflosigkeit“ wird heute mit einigem Recht als besonders schwerwiegendes Manko der sowjetischen Justiz beklagt. Wir haben es also mit einem anderen „gesellschaftlichen Rechtsempfinden“ zu tun als in jenen Breiten Europas, wo sich ein wenigstens rudimentäres Verhältnis jedes Einzelnen zu Recht und Gesetz im Laufe von Jahrhunderten enwickeln konnte. In Rußland wie in den meisten anderen Teilen der späteren UdSSR konnte davon schon vor der Revolution von 1917 nicht die Rede sein. Nach der Revolution mußte allein durch den Bürgerkrieg jeder Ansatz zur Schaffung einer neuen Justiz schnell Schiffbruch erleiden: Damals galt es nicht, Recht zu sprechen, sondern bewaffnete Feinde auszuschalten - auch durch die Justiz. Diese Überlagerung von zwei Traditionssträngen der Rechtlosigkeit mündet heute zwar nicht mehr in Massenrepression wie zur Stalinzeit - wer heute im Westen noch von „Gulag“ spricht und damit gegenwärtige Verhältnisse meint, tut es mißbräuchlich. Aber von rechtsstaatlichen Garantien für jeden Einzelnen kann noch immer nicht im entferntesten die Rede sein. „Das Recht“ liegt im Krieg mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen über „Gerechtigkeit“. Um so bedeutender ist es, wenn jetzt eine Justizreform angestrebt wird. Das Prestige der Anwaltschaft Am 22. März erschien in der Prawda ein Beitrag, der unter der nichtssagenden Überschrift „Das Prestige der Anwaltschaft“ brisanten Stoff barg. Dort war die Rede von der totalen Gesetzlosigkeit, mit der es der Angeklagte und sein Verteidiger im sowjetischen Justizalltag zu tun bekommen. Seitdem Ende November 1986 das Zentralkomitee in einer Verlautbarung die Übelstände in der sowjetischen Justiz selbst angeprangert und ihre Abstellung verlangt hatte, war die Presse schon mehrmals auf dieses Thema zurückgekommen und hatte eine „Schändlichkeit“ nach der anderen aufgedeckt. Im Prawda–Artikel war unter anderem die Rede von den Faktoren, die den sowjetischen Rechtsanwalt in seiner Tätigkeit behindern: „Diese Faktoren kann man in wenigen Worten zusammenfassen: eine Atmosphäre des Mißtrauens. Sie entsteht durch gängige Stereotype wie etwa die Advokaten schützen ausgemachte Verbrecher und behindern dadurch den erfolgreichen Kampf gegen die Kriminalität. Diese Art von Ansichten sind das Resultat eines überaus tief verwurzelten Irrtums, elementarer juristischer Ignoranz und ernsthafter Defekte im gesellschaftlichen Rechtsempfinden.“ Die erwähnte ZK–Resolution vom November 1986 faßte im wesentlichen alle Gebrechen zusammen, unter denen die sowjetische Justiz bis heute leidet. Die Untersuchungsorgane werden im Voll gefühl ihrer Überlegenheit tätig und arbeiten in der Regel voreingenommen und oft auch in professioneller Hinsicht schlampig. Der Anwalt, bei den übrigen Justizorganen höchst unbeliebt und von ihnen oft an die Wand gespielt oder sogar schikaniert, wird erst nach Abschluß der Untersuchung mit dem Klienten und seinem Fall vertraut gemacht. Im Gerichtssaal sind Staatsanwalt und Richter meist eines Sinnes: Selten bleibt das Urteil hinter dem Antrag des Anklägers zurück. Die „Volksbesitzer“ sind meist „Beschläfer“ im Sinne Tucholskys. Die Zahl der Fehlurteile ist allein aus diesen Gründen so erheblich, daß der bekannte Gerichtsreporter Alexander Waksberg, der schon zur Breschnew–Zeit in der Literatur– Zeitung viele verdienstvolle Berichte über Justizübel veröffentlicht hatte, ohne Widerspruch von „kriminellen Verbrechern“ auf manchen Richterstühlen schreiben konnte. Telefonjustiz Zur schlechten Ausbildung und der institutionalisierten Benachteiligung des Angeklagten kommt die von Waksberg so genannte „Telefonjustiz“. Wir haben oben ein vergleichsweise harmloses Beispiel dafür angeführt, wie von privater Seite Einfluß auf ein Verfahren genommen wird. Schlimmer ist jedoch die permanente inoffizielle Beeinflussung von Staatsanwälten und Richtern durch politische oder administrative Instanzen - je nach Sach– und Interessenlage zugunsten oder zu Lasten des Beschuldigten. Da die Reputation eines Festangestellten oder eines gewählten Rechtswahrers nicht zuletzt von der Beurteilung durch solche Stellen abhängt, sind dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet. Deshalb sind auch die Berufungsinstanzen selten wirklich unabhängig. Meistens bestätigen sie das angefochtene Urteil. Am aktivsten und gewissenhaftesten ist hier paradoxerweise noch die Staatsanwaltschaft, die des öfteren auch dann Berufung einlegt, wenn sie Rechtsbrüche zu Lasten des Angeklagten festgestellt hat. Verläßlich ist dieser Mechanismus natürlich nicht. Die einzige „oberste Instanz“, von der ein von allen Rechtsmitteln im Stich gelassener Schuldloser oder maßlos bestrafter Angeklagter noch Hilfe erwarten kann, ist die sowjetische Presse (die man sich völlig anders vorzustellen hat als etwa das Neue Deutschland). Viele Zeitungen haben sich Verdienste um die Aufdeckung und die Korrektur von Justizskandalen erworben. Nur können Reporter nicht überall sein. Unabhängige Gerichte Die Freilassung einer größeren Anzahl von „Dissidenten“ ist keineswegs das bedeutsamste Indiz für den sich anbahnenden Wandel. Für die weitere Zukunft erheblicher sind gesetzliche Garantien, über die zur Zeit debattiert wird und die zum Teil auch schon in Arbeit sind. Dazu gehören zwei Gesetze, deren eines die Position des Anwalts schon während der Voruntersuchung wesentlich verbessern soll. Ein anders soll die „Telefonjustiz“ und verwandte Erscheinungen unterbinden und eine wirkliche Unabhängigkeit der Gerichte sicherstellen. Namhafte Juristen machen sich für die Schaffung unabhängiger Kontrollinstanzen nach dem Beispiel der „obersten Gerichtshöfe“ in anderen Ländern stark. Justizexperten räumen aber auch öffentlich ein, daß ohne die Auswechslung einer großen Anzahl entweder miserabel ausgebildeter oder durch die schlechten Traditionen belasteter Justizmitarbeiter eine grundlegende Verbesserung der Verhältnisse kaum möglich sein wird. Wenn man die Langlebigkeit dieser Traditionen in Rechnung stellt, darf man einen durchgreifenden Wandel von heute auf morgen in der Tat nicht erwarten. Wichtig ist allerdings, daß erstmals in der russischen und sowjetischen Geschichte die Schaffung von Rechtssicherheit zu einer erstrangigen politischen Aufgabe erhoben worden ist. Denn ohne Rechtssicherheit wird sich der sowjetische Normalbürger auch nicht für Gorbatschows politische Hauptforderungen erwärmen: Demokratie und „sozialistische Selbstverwaltung“.