Chatila: Appell an Gorbatschow

■ Fast täglich Demonstrationen palästinensischer Frauen gegen den Lagerkrieg Lagerinsassen bitten Gorbatschow um Hilfe / Neuer Versorgungskonvoi vorbereitet

Aus Beirut Petra Groll

In einem dramatischen Appell wandten sich am Donnerstag abend die ca. 4.000 Bewohner des Palästinenserlagers Chatila in Beirut an den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow. „Unsere Kinder sterben an Hunger und Unterernährung, Kranke und Verwundete vegetieren in Agonie dahin, denn es gibt keine Medikamente mehr“, heißt es in dem Schreiben. Chatila wird seit dem 26.11.86 von Milizen der Schiitenbewegung Amal und Einheiten der überwiegend schiitischen 6. Brigade der Armee belagert. Seitdem konnten nur zweimal Lebensmittel in das zu 95 % zerstörte Lager gebracht werden. „Die Lage Chatilas ist noch schlimmer als die Situation der Bevölkerung Leningrads während der 27monatigen Belagerung durch die deutsche Wehrmacht im zweiten Weltkrieg“, schrieben die Bewohner an Gorbatschow, „4.000 Menschen das Leben zu retten, die zum Hungertod verurteilt sind oder umgebracht werden, wenn sie versuchen, aus dem belagerten Camp zu fliehen“. In den vergangenen zwei Tagen hatten die Palästinenser ähnlich verzweifelte Hilferufe an den iranischen Revolutionsführer Khomeini, an die Staatschefs Libyens, Algeriens und Syriens adressiert. Die 20.000 Bewohner des ebenfalls umkämpften Lagers Bour–el– Brajneh forderten UN–Generalsekretär Perez de Cuellar auf, sich für einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufhebung der Belagerung einzusetzen. Am Freitag zogen, wie fast täglich seit Wochenanfang, palästinensische Frauen aus dem einzig nicht belagerten Camp Mar Elias in einem Protestzug durch die Straßen Westbeiruts. Zum traditionellen Freitagsgebet organisierten sie eine Demonstration und ein Sit–In im ehemaligen Palästinenserlager Sabra, das zu Beginn des sogenannten Lagerkrieges 1985 völlig zerstört worden ist und nicht wieder aufgebaut werden konnte. Ein bereits für Donnerstag vorbereiteter Versorgungskonvoi mit Medikamenten und 500 Portionen Nahrungsmitteln für Chatila konnte auch bis Freitag nachmittag nicht in das Lager gelangen. Die Gründe blieben vorerst ungeklärt. Laut einheimischen Reportern ließ die schiitische Amal–Miliz am Freitag Lastwagen mit zwölf Tonnen Mehl und anderen Nahrungsmitteln passieren.