Kirche Anwalt des Volkes

Als Pinochet am 11. September 1973 mit einem Militärputsch die Macht übernahm, ging es der Kirchenhierarchie ähnlich wie der Christdemokratie. Man hatte das Ende von Allendes Volksfrontregierung herbeigesehnt und war dann doch erschrocken über den Preis, der dafür bezahlt wurde: 30.000 Tote, Zehntausende von Gefangenen, Gefolterten, Verbannten, Exilierten. Heute, über 13 Jahre später, trifft der Papst auf eine Kirche, deren untere Etagen sich kompromißlos auf die Seite derer gestellt haben, die die Konsequenzen der Wirtschaftspolitik und die Repression der Diktatur am härtesten zu spüren bekommen, während ihre oberen Etagen sich wirkungsvoll ins Spiel der Verhandlungen um einen Übergang zur Demokratie eingebracht haben. Vor einem Jahr einigten sich auf die Initiative des Erzbischofs von Santiago, Francisco Fresno, die Parteien der konservativen und gemäßigten Opposition auf eine Plattform für Verhandlungen mit der Diktatur. Pinochet empfing Fresno, allerdings nur, um ihm die kalte Schulter zu zeigen. Daß die Kirche heute anders als 1973 zu einem wichtigen politischen Machtfaktor geworden ist, hat sie in erster Linie der Diktatur zu verdanken. Schon wenige Wochen nach dem Putsch, zu einer Zeit, in der noch jede oppositionelle Regung von den Militärstiefeln einer entfesselten Soldateska zum Schweigen gebracht wurde, nahm sich das von der Kirche initiierte „Komitee für den Frieden“ der Opfer der Repression an. Als es 1975 verboten wurde, gründete sich unter der Ägide des damaligen Erzbischofs von Santiago, Raul Silva Henriquez, eines Mannes, der im Gegensatz zu vielen seiner Bischofskollegen Allendes Politik durchaus Sympathie entgegengebracht hatte, die „Vicaria de la Solidaridad“. Die Vicaria von Santiago ist heute noch die wichtigste Hilfsorganisation für die Opfer der Repression. Bei ihr laufen die Informationen über Verschleppungen, Verhaftungen, Razzien, Überfälle zusammen. Ihre Büros neben der Kathedrale sind täglich voll von Leuten, die um Hilfe und Rat suchen, von Leuten, deren Kleidung ihr Herkunft verrät. Sie kommen fast durchgängig aus den Poblaciones, den Armenvierteln der Hauptstadt. Die Vicaria beherbergt auch einen Sprengstoff besonderer Art. Hier sind die Verbrechen der Diktatur archiviert. Roberto Garreton, einer der Anwälte der Vicaria, ist schon in über 200 Verfahren mit politischem Hintergrund als Verteidiger vor Zivil– und Militärgerichten aufgetreten. Daß die Vicaria denn auch immer wieder ins Visier der Repression geriet, konnte nicht überraschen. Im vergangenen April wurden ein Anwalt und ein Arzt der Hilfsorganisation verhaftet, im September konnte ein weiterer Anwalt nur dank eines Zufalls seine eigene Verschleppung durch ein bewaffnetes Kommando verhindern. Als vor drei Jahren Francisco Fresno, der eher dem konservativen Flügel der chilenischen Kirche angehört, die Nachfolge von Silva Henriquez im Amt des Erzbischofs von Santiago antrat, konnte er sich dem Druck seiner eigenen kirchlichen Basis schon nicht mehr entziehen. Während oben, dort, wo Santiago in die Andenabhänge emporwächst und wo auch - unabhängig von ihrer Couleur - die meisten Politiker wohnen, der Mittelstand aus Protest gegen seine Verarmung auf die Kochtöpfe schlug, organisierte die Kirche im unteren Santiago, in den Armenvierteln, wo die Verelendung die Jugend buchstäblich auf die Barrikaden trieb, Volksküchen, entwickelte Programme gegen das Klebstoffschnüffeln, kümmerte sich um die ärztliche Versorgung und richtete psychotherapeutische Zentren ein. Keine politische Partei war in den Poblaciones auch nur annähernd so stark verankert wie die katholische Kirche. Und mancher Politiker konnte einen Andre Jarlan um seine Popularität nur beneiden. Jarlan, Priester im Armenviertel La Victoria, wurde während der Bibellektüre von einem Polizisten erschossen. Sein Nachfolger, Pierre Dubois, wurde im vergangenen September mit zwei weiteren Priestern des Landes verwiesen. Als Erzbischof Fresno kurz danach in der Kathedrale im Beisein des Diktators und seiner Junta das traditionelle Tedeum feierte, gaben zahlreiche Basisgemeinden in den Poblaciones ihrer Empörung öffentlichen Ausdruck. Und während vorgestern Hunderttausende dem konservativen Papst aus Polen zujubelten, waren jedesmal, wenn der Name Fresno fiel, deutliche Pfiffe zu vernehmen. Thomas Schmid