Nur wenigen glückt die Flucht aus Chatila

■ Ein Palästinenser konnte mit seinen sechs Kindern aus dem seit vier Monaten umzingelten Westbeiruter Flüchtlingslager entkommen / Im Lager fehlt es an Wasser und Medikamenten / Das Essen besteht aus Mehl und Linsen

Aus Beirut Petra Groll

Im hintersten Winkel der Schule des UN–Hilfswerks für Palästina– Flüchtlinge, einem verschachtelten Flachbau am Eingang des La gers Mar Elias in Westbeirut, hat Abu Khaled seit ein paar Tagen Unterschlupf gefunden. Er ist mit seinen sechs Kindern einer der ersten, dem die Flucht aus dem seit 133 Tagen umzingelten Palästinenserlager Chatila gelang. Es fällt schwer, den zwei mal dreieinhalb Quadratmeter großen Raum mit seinen kahlen, feuchten Betonwänden und dem kalten Zementboden als Unterschlupf zu bezeichen. Ein Stapel Schulbänke in der Ecke, einige dünne Schaumstoffmatten, ein Packen Filzdekken und klapprige Stühle machen die ganze Einrichtung aus. Ein halbes Dutzend Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren füllen den Raum mit ihrem Geschrei. Zeinab, die 27jährige Frau Abu Khaleds, schickte eine der Töchter zu einer Nachbarin, um Kaffee zu kochen. Noch nicht einmal einen Campinggas–Kocher gibt es hier. Einer der Jungen wird losgeschickt, um den Rest der Familie zu suchen. Sechs Kinder und ein Säugling sind es. Der älteste Sohn Khaled ist vor einigen Jahren gestorben, zwei weitere Söhne, Fadi und Mohammed, sind noch in Chatila. Der 13jährige Fadi, der dem Vater beim Schieben des Handwagens geholfen hat, auf dem der Alteisenhändler seinen Schrott durch die Straßen und Gassen karrte, wurde am 26. November letzten Jahres von einem der ersten Geschosse getroffen, die auf Chatila niedergingen. Der schwerverletzte Junge liegt heute noch im unterirdischen Feldkrankenhaus. Den zwölfjährigen Mohammed ließ der Vater zurück, damit Fadi nicht allein ist und wenigstens ein Teil der Kinder überlebt, falls die Flucht tödlich endet. Abu Klaled, ein schmächtiger Mann in den Vierzigern, beginnt zu erzählen. Seine Frau Zeinab war an jenem 26. November, als die Blockade Chatilas begann, mit der Jüngsten in Damaskus auf einer Hochzeit. So hat sich die Familie erst jetzt wiedergesehen. Die wenigen Menschen, denen die Flucht gelang, können an zwei Händen abgezählt werden. Während der schweren Bombardements Chatilas, die das Lager zu 95 Prozent zerstörten, wagte sich niemand der 4000 Bewohner an die Oberfläche. „Manchmal haben wir tagelang keinen Schimmer Licht gesehen. Dann wurden die Toiletten am Ausgang des Kellers getroffen, die Wasserleitungen zerstört, die Abwässer strömten die Treppe herunter und wir mußten einen Damm bauen, dazu kam noch das Regenwasser...“ Wasser, zum Trinken und Waschen, sei eines der Hauptprobleme. „Alle haben die Krätze und Läuse. Seife und Shampoo gibt es schon längst nicht mehr.“ Die letzte der fünf Lebensmittelrationen, die Abu Khaled während der Belagerung zugeteilt wurde, bestand aus 10 kg Mehl, 1 kg Zucker, einer Kerze, einer Schachtel Streichhölzer, und 2 kg Linsen. „Das Mehl habe ich mit Wassen angerührt und trocknen lassen, mal mit Zucker und mal mit Salz gewürzt, zur Abwechslung“, erzählt er. „Eine Zeit lang wurden in den Kellern Generatoren benutzt. Dann wurde Diesel knapp und es gab nur noch Strom für das Krankenhaus. Warme Mahlzeiten gab es, wenn nicht bombardiert wurde, und man die Keller verlassen und Holz suchen konnte. In den letzten Wochen haben wir Türen, Fenster und die Verkleidungen von Stereoanlagen verheizt.“ Nicht nur die Versorgung, auch das Schlafen wurde zum Problem. „In unserem Keller ist es so eng, daß man sich nicht ausstrecken kann. Geschlafen wurde so...“, sagte er und rollt sich in der Embryo–Haltung zusammen. „Immer nur ein Teil der Leute konnte schlafen, dann mußten sie geweckt werden.“ Als schließlich die Medikamente für seinen drittältesten behinderten Sohn Ibrahim ausgehen und dessen epileptischen Anfällen nicht mehr beizukommen war, beschloß Abu Khaled zu fliehen. Man versuchte, ihn davon abzuhalten, aber nichts konnte ihn von seiner Entscheidung abbringen. Bei Sonnenuntergang nahm er seine sechs Kinder und ging auf den Westrand des Lagers zu. Die Kleinen mußten einzeln über die Trümmer getragen werden. Mit hocherhobenem Kopf ging er immer wieder hin und her: „Und wenn es das letzte Mal ist, vor den Scharfschützen beuge ich micht nicht“. Es war schon dunkel, als die Gruppe das erste beleuchtete Haus außerhalb des Lagers erreichte. „Hinter den Fenstern waren Lampen an, und die Stimmen aus Radio und Fernsehen drangen auf die Straße. Da wußte ich, daß es den Rest der Welt noch gibt.“