„Virus im Hirn - Vernunft im Arsch“

■ Erste bundesdeutsche AIDS–Demonstration / Zehntausende protestieren in München gegen bayerische Zwangsmaßnahmen zur AIDS–Bekämpfung / Auflage: keine Parolen, die die bayerische Staatsregierung beleidigen

Aus München Luitgard Koch

Nach der Kundgebung stellt Guido Wahl von der Münchener AIDS–Hilfe fest, was vorher auch schon klar war: daß die Angst vor AIDS schamlos genutzt wird, um demokratische Rechte zu beschneiden und rigide Moralvorstellungen wiederzubeleben. Neu aber ist, daß er es vor 10.000 Leuten sagt, die in München zur bisher größten Demo gegen AIDS und die darauf aufbauende Politik der bayerischen Staatsregierung zusammengekommen sind. „Wir werden niemals einer Meldepflicht nachkommen“, betont er. „Wenn du dir die Typen, die da rumstehen, ansiehst, dann kannst du dir vorstellen, wieviel von denen das schon haben und warum die dagegen demonstrieren“, raunt ein Stuttgarter nach dem Einkaufsbummel in der Münchener Fußgängerzone seinen Begleitern zu. Sein moralisch erhobener Zeigefinger richtet sich auf die Teilnehmer der Schlußkundgebung auf dem Marienplatz. „Die werden alle registriert“, stellt er befriedigt fest. Zehntausend, angefangen von den AIDS–Hilfe–Gruppen, Schwuleninitiativen, Mitgliedern von Drogenberatungsstellen und Pro Familia, Frauengruppen und Grüne bis hin zu SPDlern und Vertreter der „Kirche von unten“ protestieren an diesem verkaufsoffenen Samstag gegen die bayerischen Zwangsmaßnahmen - für eine vernüftige AIDS–Politik: „Ein Virus muß als erster raus, und der heißt Strauß“, tönt es von der Spitze des Zuges. Sofort greift die Polizei ein und versucht, einen Ordner festzunehmen. Das rigide Vorgehen der Polizei hat seinen Grund: „Es ist sich jeder beleidigenden Äußerung gegen die bayerische Staatsregierung zu enthalten, andernfalls wäre eine deutliche Senkung der polizeilichen Eingriffsschwelle die Folge bis hin zur Auflösung der Demonstration“, drohte das Kreisverwaltungsreferat in seinem Auflagenbescheid den Anmeldern der Demo, dem „Anti–Strauß–Komitee“. Bereits mit ihren Flugblättern und Plakaten bekamen die Mitglieder des Anti–Strauß–Komitees Ärger mit der Justiz. Wegen Beleidigung und Verunglimpfung des Freistaats wurden die Plakate und Flugblätter beschlagnahmt und ihre Wohnungen durchsucht. Beleidigt hatte das Anti–Strauß–Komitee nach Ansicht des Münchener Amtsrichters Fertl den Freistaat mit dem Satz: „Die bayerische Staatsregierung ist schlimmer als jede Seuche.“ Selbst das Sammeln von Spenden wurde im Auflagebescheid verboten. „Wir haben bisher nur gelesen, daß es in der Türkei und Chile üblich ist, Losungen für Demos zu zensieren“, empörte sich Erna Lammerhirt vom Anti–Strauß–Komitee. Für Innenminsiter Lang war das Ganze ein willkommener Anlaß, Münchens dritten Bürgermeister Hahnzog und weitere 16 SPD– Stadträte zu rügen, weil sie zur Teilnahme an der Demo aufgeru fen hatten. „Virus im Hirn - Vernunft im Arsch“ heißt es provokativ auf einem Transparent. Und selbst der alte Hippieslogan „Make love - not war“ wurde wieder hervorgekramt. In der Mitte des Zuges grüßen die warmen Brüder aus Göttingen Bayerns kalte Krieger. Bunt wird der Zug mit den vielen rosa Transparenten auch durch die Solidaritätsanstecker der Deutschen AIDS–Hilfe in Regenbogenfarben. „Wir melden nicht“, machen bayerische Drogenberatungen und Therapieeinrichtungen auf einem Transparent deutlich. Auf einem Flugblatt fordern sie die Rücknahme der bayerischen Beschlüsse. „Bei einem Treffen mit Berliner und hessischen Einrichtungen haben wir festgestellt, daß viele Drogenabhängige dorthin abgetaucht sind“, erzählt Ulrich Rohde von der Münchner Drogenberatungs stelle Con–Drops. „Im Schwabinger Krankenhaus werden bereits Zettel verteilt, daß das Personal zwangsgetestet werden soll“, so die 25jährige Logopädin Irene Lucassen. Neben ihr ereifert sich eine junge Medizinstudentin darüber, daß kaum einer der Studenten anwesend ist, obwohl die Fachschaft dazu aufgerufen hat. „Das sind diese ärztlichen Karrieremacher“, schimpft sie. Trotzdem: „Wir haben selten so viel spontane Mithilfe und Solidarität erlebt, wie bei dieser Demo“, betont Ralph Kelbach vom Bundesverband der Homosexuellen. Ruhig wie selten ist es auf dem Münchner Marienplatz, als die Stellungnahme eines ehemaligen Drogenabhängigen und HIV–Positiven vom Tonband kommt. Nach erfolgreicher Therapie wurde er rückfällig, weil er als HIV–Positiver keine Anstellung erhielt. „Durch die geplanten Maßnahmen habe ich das Gefühl, daß mir der Stoß verpaßt wird, der mich von der Klippe stößt“, schildert er eindringlich seine Situation. „Wir sollen uns wieder daran gewöhnen, daß Menschen aus unserer Mitte ausgesondert und weggebracht werden, wie damals“, so Erna Lammerhirt vom Anti– Strauß–Komitee. Der Fanatismus, mit dem Staatssekretär Gauweiler und die bayerische Staatsregierung versuchen, ihre „Hetzpolitik“ durchzusetzen, sei nur noch tiefenpsychologisch zu verstehen, glaubt Christine Scheel von der Landtagsfraktion der Bayrischen Grünen. Unter großem Beifall ließt Michaela Riepe von der Deutschen AIDS–Hilfe eine Erklärung der ersten Münchner Prostituierten– Gruppe „Messalina“ vor. In ihrer Erklärung weisen die Frauen darauf hin, daß sie sich seit 1985 einem AIDS–Test unterziehen und seit dieser Zeit von 1.500 fünf Frauen HIV–positiv waren. Die infizierten Frauen waren durch ihre Drogenabhängigkeit zur Prostitution gezwungen. „Die eigentliche Risikogruppe sind unsere Freier“, stellen die Frauen fest. Besonders gefährdet sind Frauen, die in Clubs arbeiten. Sie werden von den Clubbesitzern gezwungen, ohne Gummi zu arbeiten. „Hier müßte man Druck machen“, fordert „Messalina“. Man wird vorsichtig in Bayern: „Das kann man sich doch an allen fünf Fingern ausrechnen, auf was das rausläuft, auf Schutzhaft und Isolierung“, empört sich ein 40jähriger Augsburger in Lederhosen und Trachtenjanker. Seinen Namen will er aber nicht nennen. Er ist Angestellter im öffentlichen Dienst.