Bittere Ernte

■ Die SPD nach der Hessen–Wahl

Jetzt, nach der ersten Depression, werden Gründe fürs Desaster der rot–grünen Koalition aufgelistet. Der designierte SPD–Vo werden kann. Sie haben auf den Chaos–Vorwurf nur defensiv reagiert. Von einem rot–grünen Bündnis erwarten die Leute, mit Angst oder mit Hoffnung gleichermaßen, mehr als die Bewältigung von Müllproblemen, mehr auch als die Schließung einer illegalen Plutoniumsfabrik. Einem Volk, das soviel Angst vor Veränderung hat, wowohl das politisch Neue als Alltag in die Tasche zu schmuggeln, als auch einen Anlauf zu machen, um dann über Notwendigkeit des Sprunges zu diskutieren, kann nur schief gehen. Die Angst der Bevölkerung vor der rot–grünen Koalition ist nachgerade um die Ereignisse betrogen worden. Und die rot– grüne Auseinandersetzung, die bislang schon von Eifersucht, Mutlosigkeit und Konkurrenzneid gekennzeichnet war, wird versteinern, da der Streit sich auf Überzeugungen verlagert. Härter kann vor allem die Sozialdemokratie nicht getroffen werden. Bis vor wenigen Tagen konnte sie die anstehende politische Auseinandersetzung nur als Personalpolitik betreiben. Jetzt trifft sie der Schlag im Moment eines innerparteilichen Pazifierungsabkommens. Die Sozialdemokratie ist gespalten in die Partei der SPD–Wähler und die der Nicht–wähler. Und diese schweigende Minderheit wird, das ist zu erwarten, als anonyme Stoßtruppe parteiinterner Debatte dauerhaft herbeizitiert werden. Die Linken haben verloren, siehe Hessen– Süd, und die Rechten können die weggebliebenen Arbeiter von Hanau und Kassel–Nord einklagen. Aber auch ihre Position ist schwach genug: die SPD kann sich auf nichts „zurückbesinnen“. Das Wahldesaster ist zugleich ein ideologisches Desaster: Auf die Nürnberger Beschlüsse kann sich die Partei zwar stellen, aber sie werden unten durchbrechen. In eine Arbeiterinteressenpolitik kann sich die SPD nicht flüchten, nicht weil die Linken nach dem rot–grünen Bündnis schielen, sondern weil in der ganzen Partei das Bild vom Arbeiter ohnehin zynisch bzw. brüchig geworden ist. Der Arbeiter zählt schon zum langsamsten Schiff im sozialdemokratischen Geleitzug. Und wie will die Partei ernsthaft einen Hanauer Arbeiter, dem sein Arbeitsplatz wichtiger ist als seine Gesundheit zur programmatischen Figur machen, ohne in eine Liebedienerei zu verfallen, vor der selbst Soziologen warnen würden. Das neue Ufer der Glotzschen Mittelschichten, der großstädtischen Intelligenz, grüßt nicht grünen Stadtmitten. Die Mißerfolge in Hamburg und Bremen scheinen programmiert. So also bleibt der Par wurden. Kurz: Genug Zeit zur Grundsatzdebatte, aber nicht genug Zeit zum Opportunismus. Klaus Hartung