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D O K U M E N T A T I O N Ein „geradezu pathologisches Bedürfnis“ nach Zahlen

■ Vor der Wende wetterte Herr Broll im Bundestag gegen Volkszählung / Danach arbeitete er fleißig im Innenausschuß für das Köpfe–Zählen

Broll (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von Professor Anderson, dem Professor für Statistik an der Universität München, stammt das Wort: „Mit der Statistik ist es wie mit dem Bikini: Man sieht nur wenig, und das Wesentliche ist verborgen.“ (...) Die Bürger, speziell die Unternehmen, klagen darüber, daß sie viel zu sehr, geradezu in einer apokalyptischen Flut, von statistischen Befragungen heimgesucht werden und ganze Heere von Personal einsetzten müssen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden zu können... Meine sehr verehrten Damen und Herrren, wir müssen zugeben, daß wir selbst einen Teil dazu beigetragen haben, daß Statistik in Verruf geraten ist. Wie sehr haben sich Politiker z.B. so fragwürdiger statistischer Untersuchungen wie des Krelle–Gutachtens und der Statistiken über die Bildungsverhältnisse in der Bundesrepublik und im Ausland bemächtigt! Welcher Unfug ist im schulischen, im wirtschaftlichen und im politischen Bereich mit diesen Statistiken angerichtet worden! Das ist nicht Schuld der Statistik, sondern Schuld derjenigen, die entweder nicht wissen, wo die Grenze statistischer Wahrheit liegt, oder bewußt mißbrauchen, was die Ämter und die Institute herausgebraucht haben. Es gibt unbestreitbar ein geradezu pathologisches Bedürfnis, politische Entscheidungen mit statistischen Zahlen zu begründen. Je mehr Zahlen sich hinter dem Komma finden, desto wissenschaftlicher scheint die Politik zu sein, die man damit begründet. Ich nehme dabei keine Partei aus; wir sind in dieser Hinsicht alle allzumal Sünder. Die Europäische Gemeinschaft ist ein typisches Beispiel dafür. Sie überschüttet uns ja mit Forderungen nach Statistik, denen wir überhaupt nicht nachkommen können. Ganze Wälder müßten abgeholzt werden, nur um die statistischen Papiere herstellen zu können, die wir, kämen wir all diesen Wünschen nach, nach Brüssel schicken müßten. (...) Natürlich folgen die Ministerien dabei dem alten Spruch, der Ihnen sicher auch bekannt ist, man solle nur der Statistik glauben, die man selbst gefälscht hat. (...) Von verschiedener Seite ist das Ansinnen an uns gerichtet worden, Einzelangaben - sei es in bezug auf Unternehmen, sei es in bezug auf Einzelpersonen - an alle möglichen Interessenten weitergeben zu können. Die Geheimhaltungsvorschrif ten - denken Sie an den Datenschutz - wären dabei sehr schwer einzuhalten gewesen. Wir haben vor allen Dingen aber Verständnis dafür, daß das Statistische Bundesamt befürchtet, bei Weitergabe von Einzelangaben auch an noch so vertrauenswürdige Persönlichkeiten - wo diese Angaben nachher landen, kann man doch nie prüfen - würde die Bereitschaft der Bürger geschwächt, die Wahrheit zu sagen, wenn befragt wird. Wenn aber überhaupt Statistik erhoben wird, muß die Garantie gegeben sein, daß die Befragungen ehrlich sind und daß die Antworten richtig gegeben werden. Sonst wäre die ganze Arbeit für die Katz. (...) Ich darf zum Schluß, da ja die Volkszählung des Jahres 1981 droht, aus der Bibel zitieren. Sie werden verzeihen, daß ich nicht Karl Marx zitiere, sondern aus dem Alten Testament, das unserer Partei doch näher liegt. Schon 1.000 Jahre vor Christus hat es eine solche Volkszählung gegeben. Da heißt es im 2. Buch Samuel: Aufs neue entbrannte der Zorn des Herrn wider Israel. Er reizte David gegen es auf und sprach: „Gehe hin, zähle die Israeliten und die Judäer!“ Sie streiften im ganzen Lande herum. Dann kamen sie nach neun Monaten und zwanzig Tagen nach Jerusalem zurück... Davids Herz fing an zu pochen, als er das Volk gezählt hatte, und er betete zum Herrn: „Ich habe schwer gesündigt, daß ich also tat. Nun, Herr, entferne die Schuld Deines Knechtes, denn überaus töricht habe ich gehandelt.“... So ließ der Herr eine Pest in Israel vom Morgen bis zur festgesetzten Zeit wüten, es starben aus dem Volk von Dan bis Beerseba 70.000 Mann. Zwei Lehren daraus: Erstens. Die Statistik ist eine üble Sache, eine Gott nicht wohlgefällige, eine sündige Sache. Ich kann den Beamten der Ämter auch diese Schlußfolgerung nicht ersparen. Zweitens eine tröstliche Erkenntnis: Was auch immer Politiker falsch machen, die Zeche zahlt das Volk. Das ist auch gut so; denn wer von uns wäre noch Politiker, wenn wir die Zeche für den Unfug, den wir anrichten, selbst bezahlen müßten? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ CSU) (Der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Werner Broll anläßlich der Debatte um das Volkszählungsgesetz 1981 und das Statistik–Bereinigungsgesetz im Deutschen Bundestag am 29. November 1979).

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