Tschechoslowakei: Warten auf Gorbatschow

■ Äußerlich herrscht in der CSSR–Hauptstadt Ruhe, doch gespannte Erwartung vor dem Besuch des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow ist spürbar / In offenen Briefen wird an die CSSR–Führung appelliert, die „Gunst der Stunde“ für eigene Reformen zu nutzen

Aus Prag Christian Semler

Prags Ladenangestellte, gewohnt, in den Schaufenstern Sinnsprüche der Partei zu drapieren, sind wieder in Aktion getreten. Aber das Ergebnis ihrer kunstvollen Tätigkeit, einst von Vaclav Havel als Zeichen der Unterwerfung unter die Ideologie im Alltagsleben entziffert, hat plötzlich eine andere Bedeutung bekommen. Die Bilder Gorbatschows (mit oder ohne Husak - ist das die Auseinandersetzung oder schiere Schlamperei?), die jetzt die Auslagen zieren, enthalten mehr als die Botschaft „Ich habe Angst und bin gehorsam“. In der Innenstadt ist in den letzten Tagen eine Putzkolonne in Aktion getreten, um an einer Hauswand die Parole „Lang lebe Gorbatschow, unverbrüchliche Treue zur Sowjetunion!“ zu überpinseln. Die Partei ließ verlauten, die krakelige Ausführung der Losung sei geeignet, deren hehren Inhalt zu beeinträchtigen. „Auf alle Fälle haben diejenigen Unrecht“, sagt Jaroslav Sabata, heute im Sprecherrat der Charta 77 und einst auf dem nachträglich als illegal erklärten Parteitag der KPC vom August 68 ins ZK gewählt, „die sagen, hier rühre sich nichts. Seit einigen Wochen ist in der Gesellschaft gespannte Erwartung spürbar.“ Er zählt die Symptome auf - eine Erklärung von Theaterleuten aus der Provinz, eine Resolution bildender Künstler, vor allem aber: die schwer greifbare, sich rasch ausbreitende Stimmung, daß das Ende der Erstarrung naht. Noch ist der Offene Brief, in dem zwölf Arbeiter aus Olmütz in Nordmähren Husak höflich aber unmißverständlich zum Rücktritt aufforderten, keineswegs typisch. Wäre dieser Brief vor dem Januar 1987 abgeschickt worden? Freilich wären wir nicht in Prag, wenn Erwartungen nicht mit Skepsis, mit Ironie gemischt wären. Man lacht über Vaculiks Feuilleton vom Februar, in dem Gorbatschow attestiert wird, er werde vielleicht noch einmal eine so umstürzlerische Entdeckung machen wie die, daß es eine Trennung der Gewalten gibt. Vaculik, seit vielen Jahren verantwortlich für die Produktion des Samisdat–Verlages „Petlice“, meint kurz und knapp: „Nichts hoffen, nichts erwarten, nichts erbitten, seine Arbeit fortsetzen!“. Aber auch er hofft natürlich - und sei es nur, daß er seine „unbestrafte Straftätigkeit“ künftig unbehelligt wird fortsetzen können. Die Verlautbarungen des letzten ZK–Plenums - Marx hätte gesagt, sie sind abgeschmackt: Umgestaltung als Beschleunigung des wissenschaftlich–technischen Fortschritts. Ein in Prag lebender SED–Genosse zieht die Augenbrauen hoch: Haben wir das nicht schon mal gehört? In der Tat, Ministerpräsident Strougal und seine Pragmatiker nähern sich vorsichtig Positionen an, die sie 1967 öffentlich vertreten haben. Kann aus diesen Reihen ein neuer Reformflügel entstehen, einer, der sich der „Partei der Ausgeschlossenen“ annähert, der die Hoffnungen der Menschen aufgreift. Oder sind die Führungsgruppen unauflöslich aneinandergekettet, wie es der protestantische Philosoph Ladislav Hejdanek ausdrückt (der dennoch bereitsteht, den Ex–Re formkommunisten beim Brückenschlag den Rücken zu stärken)? Wird man den großen Alten aus Bratislava holen, der schweigt, seinen Garten umgräbt, sich bereit hält, den einzigen, der trotz seines Versagens von 1968 noch wirklich Kredit hat? Wird Dubcek wieder die Bühne betreten? Die Heizer und Fensterputzer mit Vergangenheit haben sich ans Briefeschreiben gemacht. Der Sprecherrat der Charta 77 hat vergangene Woche offene Briefe an Gorbatschow und an die tschechoslowakische Staatsführung gerichtet. An Husak: Es ist die Pflicht der Führung, die Gunst der Stunde zu nutzen, demokratische Reformen in Angriff zu nehmen. Wer sich nicht beteiligen kann oder will, soll in Pension gehen. An Gorbatschow: Der Einmarsch von 1968 hat für die CSSR in jeder Hinsicht eine Katastrophe heraufbeschworen. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, anderen Völkern zuzugestehen, was man im eigenen Land verwirklichen will. Freiheit ist unteilbar. Die Frage der sowjetischen Truppenstationierung muß auf die Tagesordnung. Das Argument: Auch der aufgeklärteste Zar kann nicht für die Tschechen und Slowaken handeln. Sie müssen und werden ihren Weg allein finden. Jetzt wollen auch die Ex–Reformkommunisten einen eigenen Brief an Gorbatschow schreiben. Das Lager der demokratischen Opposition entsteht und beginnt mit mehreren Stimmen zu sprechen. Aber es gibt kein Anzeichen, daß die Charta zerbricht. Keiner ihrer Anhänger wird die Autorität aufs Spiel setzen, die sie sich im Kampf um die Menschenrechte erworben hat. Einstweilen hält sich die Polizei zurück, politische Prozesse sind vertagt! Vertagung ist das beste Mittel, einer Situation zu entgehen, in der es entgegengesetzte Direktiven oder - noch schlimmer - überhaupt keine gibt.