I N T E R V I E W Die Angst vor dem Notstand

■ Der Sonthofener Amtsrichter Thomas Walter führt seit dem Tschernobyl–Fallout einen erbitterten Feldzug gegen den Cäsium–Kreislauf und die Ignoranz der bayerischen Behörden im Umgang mit radioaktivem verseuchtem Klärschlamm

taz: Sie führen einen hartnäckigen Kampf gegen strahlenden Klärschlamm, gegen Gülle, Molke und Heu. Was wollen Sie erreichen? Thomas Walter: Ich möchte erreichen, daß geltendes Recht angewendet wird. Mit Recht meine ich die Bestimmungen von Atomgesetz und Strahlenschutzverordnung. Ich führe keinen Kampf gegen etwas, sondern für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen. Wie müßte denn nach geltendem Recht mit dem - nennen wir ihn mal radioaktiven Sondermüll - umgegangen werden? Wenn man von radioaktivem Abfall spricht und dies auch ernst nimmt, entsteht eine zwingende Ablieferungspflicht. Laut Gesetz wären Klärschlamm oder radioaktiv verseuchte Gülle bei der Landessammelstelle abzuliefern, die in Bayern in Neuherberg angesiedelt ist, aber seit drei Jahren nicht mehr aufnahmefähig ist für größere Mengen. Das schlechteste was man tun kann, ist die Verteilung dieser Abfälle in der Umwelt, um sie damit wieder dem Menschen zuzuführen. Was müßte denn alles in die Landessammelstellen geschaffen werden? Was ist schon radioaktiver Abfall, was geht noch so durch? Die Grenze wird durch das Gesetz bestimmt. Klärschlamm z.B. darf bis zu einer Belastung von 370 Becquerel pro Kilogramm in der Landwirtschaft verwendet werden, ohne Durchführung eines Genehmigungsverfahrens. Alles was darüber liegt, müßte durch ein atomrechtliches Verwaltungsverfahren geprüft werden. Ich habe jetzt eine Stellungnahme des Max–Planck–Institus für internationales Strafrecht vorliegen. Die schreiben mir, daß meine Argumentation zwingend ist. Punkt, Schluß, aus. Die sagen zwar auch, daß das Hinwegreden des Atomgesetzes und der Strahlenschutzverordnung politisch und wirtschaftlich verstehbar ist, aber juristisch unhaltbar. Wäre denn eine ordnungsgemäße Entsorgung möglich? Es geht ja um riesige Mengen an Gülle, Klärschlamm, Heu. Beschränkt auf das Beispiel Klärschlamm sind in den ersten zwei Monaten nach der Katastrophe die Hauptmengen an verstrahltem Material angefallen. Damals war das Volumen des verseuchten Klärschlamms - das ging bis zu 200.000 Becquerel pro Kilo und darüber - noch überschaubar. Jetzt ist das Volumen natürlich viel größer. Damals hätte man in geeigneten geologischen Formationen durchaus Möglichkeiten gefunden, um mit diesem Desaster anders fertig zu werden, als es auf Felder und Wiesen zu verstreuen. Es geht ja nicht nur um den Klärschlamm. Natürlich sind das ingesamt riesige Mengen z.B. auch an Heu. Das wäre natürlich alles mit enormen Kosten und Maßnahmen verbunden. Aber ich behaupte, daß man in erster Linie nicht die Kosten scheut. Man hat aber Angst vor einschneidenden Maßnahmen, weil sie den Notstand klar machen würden. Sie würden das Problembewußtsein der Bürger ungeheuer verschärfen. Die würden sagen, um Gottes Willen, in 1.500 km Entfernung geschieht ein Unfall, und dann haben wir solche irrsinnigen Probleme. Fühlen Sie sich eigentlich nicht als Kohlhaas, als gescheiterter Einzelkämpfer? Was sagt denn ihr Metzger oder Postbote zum inzwischen berühmt gewordenen Amtsrichter von Sonthofen? Ich bin sehr müde, weil ich viel arbeiten muß. Vor allem nachts. Aber aus der Bevölkerung erhalte ich viele beeindruckende Beweise von Zustimmung. Da ruft mich ein 80jähriger Landwirt aus meinem Dorf an und erklärt mir mit mühsamem Hochdeutsch, daß er mir einfach nur danken möchte. Wenn man sieht, wie die Dinge faktisch weitergetrieben werden hin zu dieser kriminellen Verteilung der radioaktiven Stoffe in die Umwelt, obwohl man die Chance hätte zu sagen, das lassen wir nicht mehr auf die Menschheit los, das kann man nicht hinnehmen. Ich werde mein Klärschlamm–Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Kempten weiter verfolgen. Interview: -man–