Offenbarungseid

■ UdSSR zwingt die NATO zu Atom–Bekenntnis

Wenn US–Außenminister Shultz am Montag in Moskau landet, steht er mit dem Rücken zur Wand. Das seit Monaten zwischen den beiden Supermächten betriebene Hase und Igel–Spiel im Tauziehen um ein Abrüstungsabkommen im Bereich der Mittelstreckenraketen steht unmittelbar vor seinem Höhepunkt. Sowohl für die Kurzstreckenraketen als auch die vermeintliche konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts bieten die Sowjets Lösungsvorschläge, noch bevor die NATO beides als Abrüstungshindern propagandistisch richtig placieren konnte. Derart in die Enge getrieben, bleiben den Falken in der NATO nur noch zwei Optionen: entweder Ablenken oder Klartext reden. Beide Möglichkeiten sind denkbar und auch vorbereitet. Die sogenannte Spionageaffäre um die US–Botschaft in Moskau könnte die Kulisse bieten, hinter der sich Shultz moralisch zutiefst empört verschanzt, um Verhandlungen mit dem Verweis auf die zerstörte Vertrauensbasis platzen zu lassen. Doch dies würde, zumindest in Europa, nur das gute Image Gorbatschows verstärken. Die andere Möglichkeit ist der abrüstungspolitische Offenbarungseid, wie ihn Maggie Thatcher während ihres jüngsten Moskau–Aufenthalts bereits andeutete: Egal was die Sowjets auch vorschlagen, die westeuropäischen Regierungen wollen auf amerikanische Atomraketen nicht verzichten. Damit wäre das Gesäusel vom „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ endgültig vom Tisch. Ein Europa ohne die Drohung atomarer Massenvernichtungswaffen überfordert einfach die politische Phantasie von Leuten wie Kohl. Jürgen Gottschlich