P O R T R A I T Gegen das „Gift von Auschwitz“

■ Der italienische Schriftsteller Primo Levi ist tot

Als Primo Levi am 19. Oktober 1945 nach zwei Jahren Lager in Auschwitz– Monowitz (“die Erfahrung eines Traumas, auf das uns die Zivilisation nicht vorbereitet hatte“) in Verona ankam, fragte er sich: „Wo sollten wir die Kraft hernehmen, unser Leben wieder zu beginnen“. Denn:“ In unseren Adern kreiste ... das Gift von Auschwitz“ ( aus: „Atempause“). Sein Selbstmord reißt solche Sätze aus seinem Werk mit einem Ruck hervor, als sei dieses Ende damit erklärt und besiegelt. Aber es ist sicher nicht ungerecht, seine Romane, Erzählungen, Gedichte als ein Anschreiben gegen das „Gift von Auschwitz“ zu verstehen - nicht als Selbsttherapie (das wäre für den Humanisten Levi unwürdig), sondern als Auftrag der „Untergegangenen“ und als humanistisches Programm. Hier trennt er sich von seinem ehemaligen Mithäftling in Monowitz, Jean Amery, der 1978 in Salzburg Selbstmord beging: Amery schreibt von der Alltäglichkeit des Todes in Auschwitz, bei dem es nur noch auf das „Wie“ ankomme. Falsch, sagt Levi, dort hatte ich gar keine Zeit, um an den Tod zu denken. Und setzt hinzu: „Allein die Ziele des Lebens sind die beste Verteidigung gegen den Tod; nicht nur im Lager.“ Derart leise, von lateinischer Klarheit sind seine Botschaften. In seiner begriffsfreudigen, den Sinnen zugewandten italienischen Sprache, die immer wieder als Boten des Unheimlichen deutsche Worte wie Gründlichkeit, Schadenfreude, Zählappell, Bettenbauen, Maßlosigkeit mitbringt, versuchte er das Problem von Würde und intellektueller Existenz damals wie heute zu beschreiben. Im soziologischen Todesdiagramm des Lagers hatte er objektiv keine Chance: er war ungläubig und gebildet. Sein Überleben nannte er eine Anormalität, denn „die Besten sind untergegangen“. Er besteht darauf, Laizist zu sein, vor allem nach Auschwitz. Bei einem Rapport, bei dem er als Kranker ins Gas gehen sollte, kam ihm das Bedürfnis zum Gebet. Er betete nicht. „Würde ich überleben, müßte ich mich schämen.“ (aus: „I sommersi e i salvati“) Als ein Opfer hat Levi sich nie begriffen. Primo Levi wurde 1919 als Sohn begüterter jüdischer Eltern in Turin geboren. Er promovierte zum Doktor der Chemie daselbst. 1943 floh er vor den deutschen Truppen ins Aosta–Tal und gründete eine Partisanengruppe. Da er, wie er schreibt, kein Mensch sei, der „zurückschlagen“ (er benutzt das deutsche Wort) könne, sei für ihn die Partisanenepisode „kurz, schmerzvoll, stupid und tragisch gewesen: ich rezitierte die Rolle von anderen“. Dezember 1943 wurde er verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Chemiker in Turin. 1947 erschien sein erstes Buch über Auschwitz: „Ist das ein Mensch?“. Erst 1958, nach einer Neuauflage, bekam das Buch den verdienten großen Erfolg. Ins Deutsche übersetzt sind erschienen: „Die Atempause“, „Die Verdopplungen einer schönen Dame und andere Überraschungen“, „Das periodische System“. Auch wenn die Erfahrung von Auschwitz Levi nicht losließ, wenn es ihn trieb, ein Kapitel von „Ist das ein Mensch?“ von 1947 neuerdings wieder aufzunehmen in dem Buch „I sommersi e i salvati“, wäre es gleichwohl falsch, ihn und sein Werk als etwas zu betrachten, das von der Vergangenheit nicht loskommt. Seine Predigt war vielmehr die Predigt der klaren Augen, der von keiner Verzweiflung, keiner Hoffnungslosigkeit bedrohten geistigen Wachheit. Sein Diskurs geht immer aufs Gegenwärtige, heißt es Kambodscha oder Atomwaffen. Die Kraft seiner Warnung kam allerdings aus den Lagern. So warnte er vor der „Droge Macht“, die blendet. Denn von der Macht und vom Prestige geblendet könnten wir die „Fragilität unserer Existenz“ vergessen: Im Pakt mit der Macht könnten wir übersehen, „daß wir alle im Getto sind, daß das Getto umzingelt ist, daß außerhalb des Stacheldrahtes die Herren des Todes stehen und daß wenig entfernt der Zug wartet.“ Primo Levi hat sich am Sonnabend in seinem Haus zu Tode gestürzt. Wer ihn gelesen hat, gesprochen hat, wird es nicht faßen können, eben weil seine Sätze zeugten vom Triumpf der Humanaität gegen die „Herren des Todes.“ Doch Levi zitiert auch einen Traum, einen Traum im Traum, in dem die Umgebung, die grüne Landschaft, der Freundeskreis sich auflöst. „Die Wände, die Personen weichen zurück. Alles ringsum ist Chaos, ich allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich WEISS ich, was es zu bedeuten hat - habe es immer gewußt: Ich bin wieder im Lager; alles andere war kurze Atempause, Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause.“ Klaus Hartung