I N T E R V I E W „Man muß neue Reformträger finden“

■ Professor Jiri Hajek war während des Prager Frühlings in der Regierung Dubcek Außenminister. Er ist Mitbegründer der Charta 77 und der profilierteste Verfechter des Demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei

taz: Wir haben jetzt eine Reaktion der Bevölkerung auf Gorbatschow erlebt, die freundlich, hoffnungsvoll und doch verhalten ist. Man traut den Fragen noch nicht so recht. Wie schätzen Sie die Möglichkeiten für eine neue Reformpolitik in der CSSR ein? Professor Hajek: Prinzipiell sieht auch die jetzige Führung die Notwendigkeit eines Umbaus des wirtschaftlichen Mechanismus ein und Husak hat auch beim Besuch Gorbatschows einige Voraussetzungen für eine Reformpolitik formuliert. Ist die überhaupt mit der jetzigen Führung möglich? Es gibt ja auch Spekulationen und Hinweise, daß es im Herbst zu einer großen Umbildung in der Regierung kommen wird. Ich bin kein Prophet. Tatsache aber ist, daß jetzt die selben Leute in der Führung sind, die 1968 den demokratischen Prozeß unterdrückten. Sie behaupteten damals, sie wären Konterrevolutionäre. Es gibt in der Führung aber auch Menschen, die beim Prager Frühling mitgemacht haben und sich dann entschlossen, nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt–Truppen trotzdem in die Regierung zu gehen, um das Schlimmste zu verhüten, wie sie meinten. Heute glaube ich, ist es möglich, daß die sich wieder rühren. Vielleicht ist Ministerpräsident Strougal so ein Mann. Aber diese Leute sind doch in der Bevölkerung völlig diskreditiert, weil man sie als Kollaborateure ansieht. Das stimmt, sie können aber unter den jetzigen Bedingungen die Reform anfangen und den Spielraum erweitern. Sie wären also nur Übergangskandidaten? Wer könnte denn Träger der neuen Reformpolitik sein? In der mittleren Funktionärsschicht gibt es sicher solche Leute. Die Gorbatschow–Generation ist allerdings bei uns durch den Aderlaß von 1968 kaum noch in der Partei, und die waren die Aktivisten. Es ist also eine ganze Generation verloren gegangen. Jetzt kommt es darauf an, neue Reformträger zu finden. Kann die demokratische Opposition, die Menschenrechtsbewegung dazu beitragen, daß solche Leute auf die Füße gestellt werden? Die Charta 77 will keine politische Opposition sein. Dazu ist sie zu heterogen. Sie kann aber mit ihrer Meinung zu einer politischen Diskussion beitragen. Das erste Dokument dieses Jahres, „An die Mitbürger“, hat diese Perspektive in sich. Vor zehn Jahren, als wir uns gründeten, sind solche Appelle an den Menschen vorbeigegangen. Doch heute ist die Atmosphäre wieder anders. Diese Gesellschaft hat immer noch Erinnerungen an demokratische Traditionen, die sind trotz des Schocks des Einmarsches von 1968 lebendig. Im Unterschied zum Prager Frühling aber gibt es heute kein Vertrauen mehr in die Kommunistische Partei. Damals gab es Hoffnungen in die Demokratie und auch Vertrauen in den Sozialismus. Gibt es heute noch eine Perspektive für einen „Demokratischen Sozialismus“? Oder ist die Krise schon so tief, daß der Zug in Richtung Marktwirtschaft abfährt? Unsere Erfahrung von 1968 ist, daß das Volk die Notwendigkeit der Wirtschaftsreform eingesehen hat. Kein einziger landwirtschaftlicher Betrieb ist auseinandergefallen, um sich wieder zu privatisieren. Aber private Initiativen in der Wirtschaft sollten möglich sein - siehe Ungarn. Marktelemente und Planwirtschaft müssen einander ergänzen. Daß der „Sozialismus“ durch die herrschende Politik entwertet wurde, spricht noch nicht zwingend dafür, daß der demokratische Sozialismus ausgespielt hat. Dieser Begriff muß nur einen neuen Inhalt gewinnen. Aber Sie können vielleicht sagen, dies seien Träumereien eines alten Mannes... Interview: Erich Rathfelder