Ungeklärter Atomunfall in der UdSSR

■ Bundesamt für Zivilschutz glaubt, daß es im März einen neuen Störfall in sowjetischem AKW gegeben hat / Bericht an Bundesumweltministerium bisher nicht veröffentlicht / BRD von UdSSR noch nicht unterrichtet / Suche nach Störfall–Quelle geht weiter

Von Raul Gersson

Berlin (taz) - Anfang März hat es offenbar in der Sowjetunion einen weiteren atomaren Unfall gegeben. Das jedenfalls geht aus einem Untersuchungsbericht hervor, den das Institut für Atmosphärische Radioaktivität (IAR) beim Bundesamt für Zivilschutz (BfZ) im Auftrag des Bundesumweltministeriums (BMU) erarbeitet hat. In dem bisher unter Verschluß gehaltenen und der taz zugespielten Bericht heißt es, daß die in der Zeit vom 10. bis 14. März dieses Jahres gemessene erhöhte Radioaktivität in der Bundesrepublik, Österreich und Teilen der Schweiz mit großer Wahrscheinlichkeit von einem „Störfall in einem Reaktor“ stamme. Die Quelle der Radioaktivität müsse nach der damaligen Wetterlage, eine vorwiegend östliche Windströmung, „in großer Entfernung vom Bundesgebiet, Österreichs, Finnlands und Schwedens liegen“. Am vergangenen Donnerstag hat sich auch die Strahlenschutzkommission der Bundesregierung mit den Ergebnissen des BfZ–Berichtes beschäftigt. Über Ergebnisse dieser Beratung wurde nichts mitgeteilt. Schon Anfang März hatte es Berichte über eine erhöhte Kontamination mit Jod 131 und Xenon 133 gegeben. Damals war vermutet worden, daß das radioaktive Material möglicherweise aus einem „durchgebrochenen“ unterirdischen Atomwaffentest stammen könnte, den die Sowjetunion am 26. Februar durchgeführt hatte. Die dann vom BMU in Auftrag gegebene Untersuchung durch das BfZ kommt zu einem anderen Ergebnis. Eine Rückführung der radioaktiven Quelle auf den Atomwaffenversuch scheide praktisch aus, weil das gemessene Verhältnis der Radionuklide Jod 131 zu Xenon 133 bei einem A– Waffentest nicht auftrete. Aus dem gleichen Grund scheide als Quelle auch ein Betrieb aus, in dem Radionuklide für medizinische und/oder technische Zwecke eingesetzt werden. Die beobachteten J 131/Xe 133 und auch Xe 135/Xe 133 Verhältnisse seien eigentlich nur „vereinbar mit Vorstellungen über Radioaktivitätsabgaben nach einem leichten Reaktorstörfall“, heißt es in dem Bericht des Bundesamtes. Dies bestätigte W. Weiss, einer der Autoren des Berichts, gestern der taz gegenüber. Gemessen wurde bei Jod 131 und Xenon 133 in dem angegeben Zeitraum ein Wert, der zwar um den Faktor 100 unter den Meßergebnissen nach dem Reaktorun fall in Tschernobyl liegt, gleichwohl aber um den Faktor 100 höher liegt als der Mittelwert der normalerweise vorzufindenden Jod– und Xenonkonzentration. Welche Ursache die Radionukliderhöhung haben könnte - die höchsten Werte wurden im Südosten des Bundesgebietes und in der Lüneburger Heide gemessen -, erläuterte der renommierte Bremer Kernphysiker Gerald Kirchner der taz gegenüber. Nach Durchsicht des BfZ–Berichtes, den die taz Dr. Kirchner vorlegte, kam er zu der Ansicht, daß die vom BfZ bundesweit gemessenen Werte einem Störfall in einem Reaktor der gleichen Bauart wie der Tschernobyl–Reaktor entsprächen. In diesen Reaktoren seien jeweils zwei Brennstäbe in einer Metallschutzhülle enthalten, die getrennt mit einzelnen Kühlrohren gekühlt würden. Rund 18.000 solcher Kühlrohre befänden sich in den Reaktoren. Bei einer ausfallenden Kühlung steige die Temperatur in den Brennelement–Einheiten an, Jod und Xenon bilde sich als erstes gasförmig aus. Komme es dann durch den gleichzeitig ansteigenden Druck zu einem Riß in der Metallschutzhülle, träten die Anfang März gemessenen Radionuklide aus. Nach Ansicht von Dr. Kirchner könne man davon ausgehen, daß sich ein solcher Störfall ereignete, der aber technisch bewältigt worden sei. Dieses Szenarium bestätigte auch W. Weiss vom BfZ als plausible Möglichkeit. Fortsetzung auf Seite 2 Auf die Frage, ob das BfZ, wie es im Bericht heißt, „die Frage nach der Quelle der aufgetretenen Kontamination weiter verfolgt“ hätte, antwortete Weiss: „Wir sind da dran!“ Doch hätten die Nachforschungen zu keinem Ergebnis ge führt. Der Pressesprecher des BMU, Detlef Diehl, bestätigte gegenüber der taz, daß sowohl die Strahlenschutzkommission als auch das BMU den Bericht der BfZ „zur Kenntnis genommen“ haben. Eine „offizielle Mitteilung“ über einen Störfall in der Sowjetunion liege dem Ministerium jedoch nicht vor. „Ausschließen“ wollte Pressesprecher Diehl auch nicht, daß man „etwas unternehme“, um die Quelle der Kontamination ausfindig zu machen.