Shultz bei Gorbatschows Angeboten zögerlich

■ Ein Abkommen über Abzug der Mittelstreckenraketen möglich / Kurzstreckenraketen–Abbau soll in Genf mit „Priorität“ verhandelt werden / Kontrolle bei Chemiewaffen

Berlin (taz) - „Recht viel Fortschritt“ hätten die Sowjetunion und die USA in der Frage des Abzugs aller Mittelstreckenraketen in Europa erzielt, erklärte der amerikanische Außenminister George Shultz auf einer Pressekonferenz gestern kurz vor seinem Abflug von Moskau nach Brüssel. Obwohl die USA eine völlige Beseitigung dieser Waffen befürworteten, seien sie mit dem beim Gipfel von Reykjavik vereinbarten Limit von 100 Sprengköpfen auf jeder Seite außerhalb des europäischen Territoriums einverstanden. Der Vertrag sollte eine Dauer von vier bis fünf Jahren haben und eine strikte Kontrolle mit einschließen. Gerade die hatte der sowjetische Parteichef am Vorabend dem amerikanischen Außenminister angeboten. „Wir sind für ein zuverlässiges Abkommen unter strengster und umfassender Kontrolle“, erklärte Gorbatschow. Die UdSSR sei bereit, „in einem relativ kurzen und exakt festgelegten Zeitraum die taktischen Raketen vollständig zu beseitigen“. „Wir haben Ihnen alles gesagt, sogar mehr als sie erwartet haben. Wir gehen weiter, als wir es in Prag sagten, wir sind auch zur Beseitigung der taktischen Gefechtsfeldwaffen bereit“, hatte er sein Angebot erweitert. Die USA könnten diesem Vorschlag noch nicht zustimmen, antwortete Shultz auf der Pressekonferenz, zuerst müßten die europäischen Verbündeten konsultiert werden. Doch seiner Meinung nach würde die Frage der Kurzstreckenwaffen „erste Priorität“ bei den Genfer Verhandlungen erhalten. „Es sollte möglich sein, eine Vereinbarung auf diesem Feld durch harte Arbeit und Einfallsreichtum zu erzielen.“ Bei den strategischen Langstreckenwaffen seien beide Regierungen seit Reykjavik darin einig, die Arsenale um 50 Prozent mit jeweiligen Obergrenzen von 6.000 Sprengköpfen und 1.600 Abschußrampen zu verringern sowie die Bomberflotte einzubeziehen. Die Gespräche über dieses Thema würden fortgesetzt. „Keinen sehr großen Fortschritt“ stellte Shultz bei den Unterredungen über die Strategische Verteidigungsinitiative fest. Er wiederholte den amerikanischen Standpunkt, daß der ABM– Vertrag über die Begrenzung von Defensivsystemen einer SDI–Entwicklung nicht im Wege stehe. Gorbatschow hatte am Vortag dagegen erklärt, die UdSSR sei für die Suche nach einer Lösung bereit, bestimmte Versuchsprogramme des SDI–Projekts hinzunehmen, „um den Prozeß der Verhandlungen über die nukleare Abrüstung nicht zum Scheitern zu bringen, da die USA sich an SDI gebunden fühlen“. Diese Versuche müßten lediglich auf der Erde, das heißt in den Forschungsinstituten, auf Testgeländen oder in den Fabriken stattfinden. Bisher hatte die Sowjetunion den Vereinigten Staaten nur „Laborversuche“ zugestanden. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 Beide Seiten halten nach den Worten von Shultz ein „überprüfbares, umfassendes Abkommen“ zur Beseitigung der chemischen Waffen für bedeutsam. Bei den wünschbaren Kontrollen gebe es jedoch noch unterschiedliche Ansichten. Als einen ersten Schritt habe er mit dem Außenminister Schewardnadse vereinbart, Beobachter auszutauschen, die auf beiden Seiten die Zerstörung der Waffen verfolgen sollten. Außerdem seien die Spionageaffaire um die Botschaften, regionale Konfliktherde, Menschenrechte und die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen zur Sprache gekommen. Als einziges unterzeichnetes Abkommen, das tatsächlich in Moskau geschlossen wurde, konnten die Außenminister einen Kooperationsvertrag zur friedlichen Nutzung des Weltraums vorweisen. er