Gewaltspirale in der Westbank

■ Provozierte Gewalt soll die Internationale Nahost–Friedenskonferenz verhindern

Der drei Wochen andauernde Hungerstreik palästinensischer Gefangener in der von Israel besetzten Westbank ist beendet. Überraschend hat gestern der Gouverneur für alle Gefängnisse, General David Maimon, nachgegeben und den Gefangenen eine „menschliche Behandlung“, daß heißt gleiche Bedingung

Der Bevölkerung in der israelisch besetzten Westbank drohen neue „administrative Maßnahmen gegen palästinensische Aktivisten und nationale Einrichtungen“, wie es in Presseberichten am Mittwoch hieß. Bereits am Vortag hatte Verteidigungsminister Rabin palästinensischen „Unruhestiftern, Terroristen und Hetzern“, die für Zwischenfälle in den besetzten Gebieten verantwortlich seien, „harte Strafmaßnahmen“ angedroht. Hintergrund ist nicht so sehr ein Anschlag auf ein Siedler–Auto, der einer Frau das Leben kostete, als vielmehr eine ganze Serie von Sit–Ins, Streiks oder Demonstrationen der palästinensischen Bevölkerung. Die Anlässe sind austauschbar: ein Hungerstreik palästinensischer Gefangener, der „Tag des Bodens“ oder der Lagerkrieg im Libanon. Jenseits des aktuellen Anlasses geht es jedoch auch um ein Aufbegehren gegen das Leben unter der Besatzung, nunmehr in seinem zwanzigsten Jahr. Die massive Solidarisierung im jüngsten dieser Aktionszyklen, der Unterstützung des Hungerstreiks, ist nur verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß es gegenwärtig kaum jemanden gibt, der keine Angehörigen im Gefängnis hat oder hatte. Nach einer Statistik des Internationalen Roten Kreuzes haben von den 1,5 Millionen Palästinensern in den besetzten Gebieten bereits eine halbe Millionen im Gefängnis gesessen. Vor dem Hintergrund der für den 20. April geplanten Sitzung des palästinensischen Nationalrates (Exilparlament) in Algier und den Bestrebungen nach einer Wiedervereinigung der PLO verwandelten sich die Demonstrationen und Streiks jedoch auch in Kundgebungen für eine starke und geeinte PLO, für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Jüdische Siedler in den besetzten Gebieten sind beunruhigt über diese Entwicklung. Das gleiche gilt für die intensivierten Vorbereitungen für eine Internationale Nahost–Friedenskonferenz, die die israelischen Rechtsparteien als eine „gefährliche Falle“ ansehen, die in jedem Falle vermieden werden müsse. Um die Militärbehörden zu zwingen, schärfer gegen streikende oder demonstrierende Palästinenser vorzugehen, nahmen Siedler–Milizen „das Recht in die eigenen Hände“, patrouillierten in arabischen Städten und schüchterten die Bevölkerung ein, indem sie Häuser, Autos und landwirtschaftlichen Besitz demolierten. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß erst der jüngste Anchlag zum Ansteigen der Aktivitäten der Siedler und Überfälle auf Palästinenser und ihr Eigentum geführt hat. Bereits seit ein Paar Wochen ist ein Trupp radikaler Siedler aus Kiriat Arba in der Umgebung von Hebron aktiv, angeblich, um den jüdischen Verkehr abzusichern. Wenn palästinensische Kinder Steine werfen, zertrümmern Bewaffnete die Fenster an den Häusern von Haloul. Die Proteste und Gewaltakte jüdischer Siedler anfang dieser Woche haben erste Erfolge erzielt: die Schließung von Oberschulen, Lehrerseminaren und Universitäten in der Westbank sowie die Festnahme von über hundert „PLO–Agitatoren“. Das harte Durchgreifen wurde in den letzten beiden Tagen auch auf den Gaza– Streifen ausgedehnt. Die Beerdigung eines palästinensischen Studenten in Raffa, der am Montag in Bir–Zeit von israelischen Sicherheitstruppen erschossen worden war, verwandelte sich in eine Demonstration von Tausenden gegen die Besatzung. Die Behörden ordneten eine Ausgangssperre an und setzten Tränengas ein, um die Teilnehmer der Beerdigung zu zerstreuen. Wie sich solche Proteste schneeballartig ausbreiten, zeigte sich am Dienstag auch in den Städten Ramallah und Jenin in der Westbank. Sie wurden durch einen Generalstreik lahmgelegt - aus Protest gegen die neue Verhaftungswelle und das Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte in der Bir–Zeit–Universität. Die Hochschule wurde für vier Monate geschlossen. Das bedeutet, daß die Studenten das laufende akademische Jahr nicht abschließen können. Universitätspräsident Gabi Baramki gab an, über zwanzig Studenten seien festgenommen worden, als die israelischen Soldaten in die Gebäude eindrangen. Der Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät erklärte, die Soldaten hätten Tränengasgranaten in ein Wohnheim für Studentinnen geworfen und Frauen festgenommen, als sie das Gebäude verließen. Zu den jüngst verhafteten Palästinensern zählen auch mehrere Journalisten aus Ostjerusalem und Umgebung. Die radikale Siedlerbewegung Gush Emunin fordert jetzt erneut die Schließung aller „pro–palästinensischen arabischen Zeitungen“ in Jerusalem, eine Mindeststrafe von fünf Jahren Haft für Palästinenser, die Steine werfen sowie die Zerstörung von Pflanzungen in arabischem Besitz entlang der Straßen in den besetzten Gebieten. Entsprechend warf Baramki auch den Besatzungsbehörden vor, sie führten eine Politik aus, wie sie von den Siedlern gewünscht werde. Verteidigungsminister Rabin blies ins gleiche Horn, als er neben der PLO und moslemischen Geistlichen auch der arabischen Presse in Ostjerusalem vorwarf, für die „Aufhetzung der Araber“ in den besetzten Gebieten verantwortlich zu sein. Doch die Forderungen der Siedler gehen noch weiter: Neue Kolonien sollen eingerichtet werden, ferner wünschen sie die Massendeportation von Palästinensern und zusätzliche Kollektivstrafen. Diese Spirale oder das „Hinaufschaukeln“ repressiver Maßnahmen gegen Palästinenser unter dem Druck bewaffneter Siedler und der Gush Emunin war in den zwanzig Jahren der Besatzung immer wieder eine bewährte Methode der rechtsgerichteten Kräfte zur Erweiterung ihres Einflusses auf die Regierungspolitik und die Festigung des Status quo. Dieses Szenario wiederholt sich regelmäßig, sobald die „Gefahr“ von Friedensverhandlungen am Horizont erscheint und rechtzeitig „gebannt“ werden muß. „All das Gerede über eine internationale Konferenz führt zu einer ernsten Bedrohung unserer Positionen: Macht endlich Schluß damit“, fordern die Gush Emunin–Siedler von der Regierung. Die Schlagzeile der Zeitung „Haaretz“ vom Mittwoch lautete denn auch: „Gush Emunin fordert, (Verteidigungsminister) Jitzhak Rabin führt aus.“ Mittlerweile hat sich die Situation in Ostjerusalem am Mittwoch erneut zugespitzt, da offizielle Feierlichkeiten anläßlich des Jahrestages der „Wiedervereinigung Jerusalems“ begannen. Der arabische Teil der Stadt war im Zuge des Krieges von 1967 erobert und dann annektiert worden. Die Feierlichkeiten werden die nächsten beiden Monate über weitergehen und werden von den Palästinensern als schwerwiegende Provokation empfunden. Amos Wollin