Das Dilemma

■ Die NATO beharrt auf Atomwaffen in Europa

Die NATO, so der überwiegende Tenor US–amerikanischer Offizieller nach dem Shultz–Besuch, stecke in einem schwierigen Dilemma: Lehne sie die Gorbatschow–Angebote zur Null–Lösung im Kurzstreckenbereich ab und baue stattdessen eigene Atomraketen kürzerer Reichweite auf, stehe sie als Kriegstreiber dar. Gingen die NATO–Staaten aber auf das Angebot ein, seien sie mit der „gigantischen konventionellen Überlegenheit“ des Warschauer Pakts konfrontiert. Schon diese Gegenüberstellung ist in ihrer Unlogik eine Beleidigung des menschlichen Verstands: Wäre die angebliche konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes glaubhaft, stünde die NATO eben nicht als Kriegstreiber da. Allein: Sie ist nicht glaubhaft, weil sie eben nicht existiert. Dieser Donnerstag, der 16.April 87, wird in der Rückschau zu den Daten gehören, an denen der entscheidende Schritt zu einem atomwaffenfreien Europa nicht getan wurde. In der Stunde der Wahrheit hat die NATO nichts anderes anzubieten als eine neue Bedrohungslüge. Legenden dieser Art sind mittlerweile Legion. Noch wenn Gorbatschow der NATO die Verschrottung aller Panzer anbietet, wird diese uns erzählen, das Ganze sei ein mieser Trick, da allein die Masse der russischen Bauern ausreiche, um mit Dreschflegeln bewaffnet Westeuropa kurz und klein zu schlagen. Es stimmt, die NATO steckt in einem Dilemma: nach Jahren der systematischen Irreführung der innerhalb der Allianz lebenden Bevölkerung bleibt ihr nun nichts anderes mehr übrig, als unumwunden zuzugeben, sie werde auf Atomwaffen in Europa nicht verzichten. Das tatsächliche Dilemma aber ist ein ganz anderes. In der augenblicklichen Situation können die NATO– Häuptlinge ungestraft sagen, was sie klammheimlich nie anders gesehen haben. Im Zyklus der europäischen Protestbewegung ist Frieden gerade out. Bis es sich herumgesprochen hat, daß die Chancen für eine tatsächliche Abrüstung noch nie so günstig waren wie heute, ist Gorbatschow vielleicht schon gescheitert. Jürgen Gottschlich