NATO besteht auf Atomwaffen in Europa

■ Nur bei Mittelstreckenraketen ist die NATO bereit, eine Null–Lösung zu akzeptieren / Kurzstreckenraketen in Westeuropa sollen beibehalten werden

Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - Nach Unterrichtung der europäischen Verbündeten durch US–Außenminister Shultz im Anschluß an seine Moskauer Gespräche bereiten die NATO–Mitgliedsländer eine gemeinsame Antwort auf die sowjetischen Vorschläge vor. Nach Auskunft des US–Außenministers soll diese Stellungnahme „weit vor“ dem westlichen Gipfeltreffen im Juni in Venedig erfolgen. „Man wollte übereilte Reaktionen vermeiden“, berichtete der bundesdeutsche Außenminister Genscher zur Situation nach den neuen Vorschlägen Gorbatschows. Bereits jetzt ist jedoch klar, daß die NATO an ihrer Doktrin einer „flexiblen nuklearen Antwort“ auch auf einen konventionellen Angriff festhalten will und deshalb zögert, uneingeschränkt einer Verschrottung ihrer Kurzstreckenraketen zuzustimmen. „Es hat keine einzige Stimme gegeben, die der Meinung gewesen wäre, daß hier in Europa auf nukleare Waffen kürzerer Reichweite verzichtet werden könnte“, sagte Genscher nach der Konsultation im Nato–Außenministerrat. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow hatte Shultz vorgeschlagen, die Mittelstreckenraketen größerer Reichweite mit 1.000 bis 5.000 Kilometern) aus Europa abzuziehen und nur je (100 Raketen in Alaska und im asiatischen Teil der UdSSR zu belassen. Danach wolle die UdSSR auch ihre Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite (mit 500 bis 1.000 Kilometern) zerstören. Überdies schlug Gorbatschow separate Verhandlungen für eine Null–Lösung bei Kurzstreckenraketen und Gefechtsfeldraketen (150 bis 500 Kilometer) vor. Nach den bisherigen Äußerungen der NATO–Außenminister will man die Kurzstreckenraketen unter 500 km Reichweite auf jeden Fall behalten, wahrscheinlich sogar aufrüsten, um mit der Sowjetunion gleichzuziehen. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 Außer einer Null–Lösung für die Mittelstreckenraketen über 1.000 km Reichweite (Pershing II, Cruise Missile und SS 20) könnte die NATO auch „Null für Raketen zwischen 500 und 1.000 km akzeptieren“ (Genscher), da dann auf NATO–Seite nur 72 veraltete Pershing 1a geopfert werden müßten, gegenüber knapp 300 Raketen dieser Reichweite auf sowjetischer Seite. Noch gibt es aber auch genügend Stimmen, die stattdessen die Pershing II um eine Antriebsstufe reduzieren und beibehalten wollen. Völlig unberührt von den bisherigen Verhandlungen sind die unter NATO–Oberkommando stehenden Atomraketen auf U–Boo ten und die in Großbritannien stationierten Atombombenflugzeuge. Das Hauptargument gegen eine völlige Beseitigung der amerikanischen Atomwaffen ist die angeblich erdrückende konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion. Einzig der SPD–Rüstungsexperte Scheer warf der NATO dreiste Irreführung vor und behauptete, das Verhältnis läge bei eins zu 1,2 zugunsten des Warschauer Pakts und könne leicht ausgeglichen werden.