Südkoreas Studenten üben Straßenkampf

■ Brutale Polizeieinsätze verhindern Demos / Eine Untergrundbewegung konstituiert sich

Seitdem Mitte letzten Monats der südkoreanische Präsident Chun Doo–Hwan sein Versprechen zurückgezogen hat, die Verfassung so zu ändern, daß der zukünftige Präsident direkt gewählt werden kann, sieht es für die parlamentarische Opposition schlecht aus. Statt dessen rückt die Studentenbewegung wieder in den Vordergrund, die seit Jahren mit wesentlich radikaleren Forderungen die südkoreanische Entwicklungsdiktatur bekämpft. Eine reale Alternative haben sie allerdings nicht anzubieten.

„Sieh dir meine Hände an“, sagt der junge Mann. Er zittert. „Noch kein Blut dran. Doch lange kann es nicht mehr dauern.“ Sein Gesicht ist auf der linken Seite etwas vom Tränengas verätzt. Die Augen sind rot unterlaufen und angeschwollen. „Ich bin Student für Computertechnik in der Seoul National University“, sagt er leise. „Ich hab genug davon, verprügelt und eingesperrt zu werden. Sie foltern meine Freunde, brachen den Willen unserer älteren Brüder und ruinieren unsere Familien.“ „Warst Du auf den Philippinen? Kennst Du die Sandinistas?“ fragt er in fast makellosem Englisch. Dann wendet er sich an die Umstehenden und will wissen, wieviele Demonstranten verhaftet wurden und wo die anderen sind. „150 bis 200 wurden abtransportiert, die restlichen haben sie in die Seitengassen und in die Berge getrieben“, meint ein Junge. Derweilen marschiert eine Hundertschaft „Riot–Police“ im Gleichschritt an uns vorbei. Straßenkehrer kratzen die handgroßen Asphaltbrocken zusammen und sammeln die Reste der Tränengasgranaten ein. Noch immer liegt ein fürchterlich beißender Geruch in der Luft. Anwohner haben die Eisenrolläden ihrer Geschäfte wieder hochgewuchtet und versuchen, mit Wasserschläuchen den Gasgestank wegzuspülen. Noch vor wenigen Stunden hatte es hier draußen im Norden von Südkoreas 10 Millionen– Hauptstadt nach einem idyllischen Ostersonntag ausgesehen. In den Morgenstunden waren Scharen von Menschen hier raus zum Suyuri–Mahnmal gepilgert. Das erste warme Wochenende in Seoul in diesem Jahr. Die Bäume haben begonnen zu blühen. Doch die Idylle trügt. In den Nebenstraßen ist bereits ein Massenaufgebot von Polizei aufmarschiert. Denn der 19. April ist der 27. Jahrestag der südkoreanischen Studentenrevolution von 1960. Damals hatte der Diktator Syngmau Rhee versucht, die Präsidentschaftswahlen zu seinen Gunsten zu fälschen. Zum diesjährigen 27. Jahrestag haben etwa 20 verschiedene Oppositionsgruppen gegen das regierende Regime von Präsident Chun Doo– Hwan zur Gedenkfeier an dem Ehrenmal für die Toten von 1960 aufgerufen. „Für uns ist der Tag ein Anlaß zur Hoffnung“, meint eine junge Frau. „Wie unsere Väter damals, wollen wir einen Diktator loswerden.“ Trotz des nachweislichen wirt schaftlichen Erfolgs, den Südkorea in den letzten Jahren zu verzeichnen hat, ist der amtierende Präsident Chun Doo–Hwan bei den jungen Studenten, Oppositionspolitikern und Gewerkschaftlern verhaßt. Die Studenten erinnern an eines der dunkelsten Kapitel in der kurzen Geschichte der derzeitigen fünften Republik Südkoreas. Zu Beginn seiner Amtszeit ließ Ex–General Chun Doo–Hwan am 18. Mai 1980 einen bewaffneten Volksaufstand in der Stadt Kwangju von Elite– Einheiten niedermetzeln. Die offiziellen Stellen sprechen zwar nur von 200 Toten, doch nach Angaben der Bevölkerung sollen es zehnmal soviel gewesen sein. Für Südkoreas Studenten ist deshalb das Frühjahr seit einigen Jahren wieder heißeste Protestsaison. Schon in der letzten Woche verging kein Tag, ohne daß nicht an irgendeiner Hochschule Studenten und „Riot–Police“, wie es die staatlich gelenkte Presse umschreibt, „Pflastersteine, Brandflaschen und Tränengas austauschten“. Bereits Tage vor dem Jahrestag hat die Regierung in der Hauptstadt 20.000 zusätzliche Polizisten versammelt. Vor jedem U– Bahnschacht und vor jedem öffentlichen Gebäude stehen mindestens vier von ihnen. Die 2.500, die um das Mahnmal zusammengezogen wurden, sind allesamt mit Kampfmontur ausgestattet. Unter ihren schwarzen Helmen mit langem Genickschutz, grünen Uniformen und grauen Schildern wirken sie wie kampferprobte Samurai. Sie haben sich in Dreier– Reihen an den Hauptzufahrtsstraßen aufgebaut. „Die Regierung wird keine Massengebete und keine Massendemonstration vor dem Suyuri–Mahnmal zulassen“, hatte es noch am Sonntag morgen in den Lokalzeitungen geheißen. Für mögliche Verhaftungen wurden mehrere hundert Gefängniszellen geräumt. Doch davor fürchtet sich hier draußen offenbar niemand. Am frühen Nachmittag ist die gesamte Trauerstätte voll von Menschen. Sie haben sich vor den Gräbern niedergelassen. Junge Leute beginnen die Studentenhymne der Revolution von 1960 zu singen. Es geht um Demokratie, Freiheit und Gleichheit. Wortführer beginnen Anti–Chun–Parolen zu rufen. Die Menge skandiert im Chor: „Amerikaner raus aus Korea.“ Pünktlich um 14.00 Uhr entrollen einige Demonstranten ihre Spruchbänder, auf denen der Rücktritt des Präsidenten und eine sofortige Verfassungsänderung gefordert wird. Eine alte Frau zieht aus ihrer Tasche ein Plakat, auf dem ein Foto ihres Sohnes zu sehen ist, der als Demonstrant ins Gefängnis gesteckt wurde. Studentenführer steigen auf ein Podest und halten Reden gegen die Regierung. Auf mehr als 8.000 Menschen ist die Menge jetzt wohl angewachsen. Sie recken die geballte Faust in die Luft und rufen „Weg mit Chun“. Als sich die Kundgebung nach fast drei Stunden auflöst, ist immer noch keine Polizei zu sehen. Die jungen Leute versuchen in einem gut einen Kilometer langen Demonstrationszug auf die Sraße zu ziehen, Tücher und Mundschutz vorm Gesicht. Eine Gruppe von jungen Arbeiterinnen, keine älter als 20 Jahre, hat sich untergehakt. Jede hält einen Asphaltbrocken in der Hand. Als der Demozug sich durch eine enge Gasse bewegt, ist plötzlich die Straße versperrt. Aus der Menge fliegen Steine in Richtung der plötzlich auftauchenden Polizei. Die reagiert mit einem Regen von Tränengasgranaten. Neben mir geht solch ein Geschoß nieder. Es raubt einem sofort den Atem, Leute müssen sich schier erbrechen. Mehrere tausend rennen in Panik zurück, die ersten Mädchen stürzen nieder, die Menge trampelt über sie hinweg. Knapp dahinter folgt die Polizei. Die erste Reihe wird von einem Greiftrupp gebildet, der sich angeblich aus Straßengangs rekrutiert. Ihre Brutalität ist berüchtigt und beispiellos. In kurzer Zeit haben sie mit Knüppeln 100 bis 200 Leute wie Vieh zusammengetrieben. Sie müssen sich vornüberbeugen, den Rücken des Vordermannes greifen und im Gänsemarsch in Gefangenenbusse trippeln. „Wen sie erwischt haben“, meint ein Student, „für den gibt es in der Regel keine Zukunft mehr. Er wird meist von der Hochschule ausgeschlossen. Mitunter verliert die ganze Familie den Job.“ Zusammen mit ein paar jungen Leuten bin ich in eine Privatwohnung geflüchtet. Zehn junge Mädchen liegen dort nach Luft röchelnd am Boden. Das Trängengas zeigt fürchterliche Wirkung. Ihre Gesichter sind zum Teil rotgeätzt. Einige haben für Stunden einen Schleier vor den Augen. Als ich wieder vor die Tür trete, durchkämmen Polizisten das Viertel nach Demonstrationsteilnehmern. Einzig ein amerikanischer Journalist steht noch zwischen den schwarzbehelmten Polizisten auf der Straße. Über das Gesicht hat er eine Gasmaske gestülpt. Er streckt die Hand aus und meint: „Mein Name ist Charly. Es ist nett, dich kennenzulernen.“ Jürgen Kremb