Komsomolzen sollen näher an die Jugend ran

■ Auf dem gerade beendeten Kongreß des sowjetischen Jugendverbandes taten sich die meisten Delegierten schwer, das „Neue Denken“ in zukunftsweisende Diskussionen umzusetzen, während es im Vorfeld der Veranstaltung zu lebhaften Auseinandersetzungen kam

Aus Moskau Sven Sjoegren

Kurz vor Beginn des 20. Kongresses des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol am Osterwochenende hatte es eine Repräsentativumfrage an den Tag gebracht: Nur 14 Prozent der über 40 Millionen Mitglieder sind zufrieden damit, wie sich Gorbatschows „Perestrojka“ (Umbau) auf das Innenleben der Organisation auswirkt. Und das sind, wie sich leicht vermuten ließ, entweder die Anspruchslosesten unter den organisierten Jugendlichen zwischen 14 und 26 Jahren (in der Praxis endet das Komsomol–Alter meist mit 20) oder aber solche, die in ihrer Grundorganisation außergewöhnliches Glück mit neuen Experimenten der „Glasnost“ und der Demokratisierung hatten. Jedenfalls zeigte sich, daß die jungen Leute in Schule und Betrieb, Universität oder Armee im großen und ganzen dieselben Erfahrungen machen mußten wie ältere Landsleute: Die Klage, daß die „Perestrojka“ das Leben des einzelnen bisher kaum berührt habe, ist auch die ihre. Von der älteren Generation, die der Reformpolitik zumeist sympathisierend, aber ohne große persönliche Einsatzbereitschaft zusieht, unterscheidet sie indessen größere Ungeduld und ein aktiverer Veränderungswille. Das bekamen schon lange vor dem Kongreß die mehr oder minder hauptamtlichen Funktionäre des Komsomol zu verspüren, deren Verhalten und Wesensart oft ein getreues Spiegelbild der älteren Funktionsgeneration in Partei, Staat, Wirtschaft oder Verbänden sind. Sie mußten entdecken, daß ihnen ein Teil der Jugend weglief, darunter auch viele, die der Komsomol als Karteileichen weiterhin führt. Der Komsomol war kaum je dabei, wenn die sowjetische Presse in jüngerer Zeit dem Tun und Treiben „informeller“ Zusammenschlüsse von Jugendlichen alarmierte Beachtung oder aber auch Anerkennung zollte. Da waren zum Beispiel die Fälle, wo Schüler, Studenten und Jungarbeiter in Leningrad und Moskau durch aktives Einschreiten schöne alte Baulichkeiten vor der Spitzhacke zu schützen suchten. In Leningrad dauerte die Demonstration tagelang und die Regierungszeitung Iswestija äußerte sich in zwei großen Berichten beifällig darüber. Dem Leningrader Komsomolchef blieb nichts anderes übrig als sich jetzt auf dem Kongreß diesem Beifall widerwillig und mit selbstkritischem Gemurmel anzuschließen. In Moskau hatten aufgeklärte Kollegen von ihm schon versucht, durch die Gründung von Discos und sogar eines „Rocker“–Motorradclubs wieder Anschluß an die spontane Entwicklung außerhalb des Verbandes zu finden. Hitzige Diskussionen im Vorfeld Aber auch im eigentlichen Wirkungsbereich des Komsomol sahen seine Lenker sich seit Gorbatschows Amtsübernahme mit nie erlebten Dingen konfrontiert. In Schulen und Universitäten setzen Debatten über Mit– und Selbstverwaltung ein. Dem 20. Komsomolkongreß war wie immer eine lange Serie von örtlichen und regionalen Rechenschafts– und Wahlversammlungen vorausgegangen. Die sahen diesmal ganz anders aus als in früherer Zeit. Allenthalben versuchten die Teilnehmer, eine neue Errungenschaft durchzupauken, die unter der Bezeichnung „freies Mikrophon“ auch in die Massenmedien Eingang fand: ein wanderndes Saalmikrophon, über das die Teilnehmer im Schutz der Gruppensolidarität die „Leader“ und Parteivertreter oben auf der Tribüne mit direkten Fragen und Anklagen heftig in die Mangel nehmen konnten. Diese Einrichtung ersparte ihnen den noch ungewohnten Gang zum Rednerpult auf der Tribüne, wo stets nur vorbereitete Texte verlesen worden waren. Auf diese Weise kam es oft zu sehr hitzigen Konfrontationen, die für beide Seiten höchst aufregend waren. Die Versammlungen hatten Zulauf wie seit undenklichen Zeiten nicht mehr, wofür auch das mit elf Millionen Auflage erscheinende Blatt Komsomolskaja Prawda sorgte, die heute zu den offensivsten „Perestrojka“– Blättern gehört. Aber keineswegs überall klappte es, das „freie Mikrophon“ durchzusetzen. Sowjetischen Jugendlichen ist noch nicht geläufig, was nicht wenige westliche Altersgenossen seit den Erfahrungen von 1968 beherrschen: der geschickte Umgang mit Verfahrensregeln, um die ausgeklügelten Vorhaben der Vorstandstische zu verwirren. Manchmal gelang es, für eine örtliche Vorstandskandidatur konkurrierende Kandidaten aufzustellen und durchzubringen. Die fast 5.000 Delegierten für den Kongreß aber waren fast sämtlich von den etablierten Jungfunktionären ausgeguckt worden. Zweierlei Zeitgeist bei den Delegierten Allerdings kann man auch diese nicht über einen Kamm scheren. Unerwartet viele von ihnen ließen ihren jahrelang frustrierten demokratischen Hoffnungen freien Lauf und schlugen sich auf die Seite der Bürokratiekritiker. Andere aber paßten sich nur dem neuen Geist mit opportunistisch eifernden Worten an, ohne allerdings an Kapitulation zu denken. Diesen Umstand schien sogar der sonst so scharfblickende Michail Gorbatschow zu übersehen, als er die Delegierten mit Worten des Lobes für ihre kritischen und selbstkritischen Debatten nach Hause verabschiedete. Wie zuvor schon in anderen poilitischen Organisationen der UdSSR, blieben die Schlußresolutionen weit hinter den mündlichen Beiträgen der Delegierten zurück. Der Apparat hatte die Sache auch jetzt noch halbwegs in der Hand. Trotzdem sieht es so aus, als werde der Streit um die „Perestrojka“ im Komsomol auch künftig lebhafter und zielstrebiger ausgetragen werden als etwa in den Gewerkschaften, die nach ihem Kongreß Ende Februar wieder in den gewohnten Trott verfielen. Zutreffend hatte der Parteichef in seiner Begrüßungsansprache vor den Komsomoldelegierten festgestellt, daß sie noch keine Zeit gehabt hätten, sich so stark wie die Älteren an bürokratischen Verhaltensmustern zu infizieren. Die Jugendszene in der UdSSR bleibt bewegt. Und für viele noch tonangebende Komsomolfunktionäre wird es auf die Dauer zur politischen Überlebensfrage werden, ob sie sich an die Spitze der spontanen Prozesse innerhalb wie außerhalb des Verbandes setzen, oder ob sie sich von ihnen überrollen lassen und die Führung an Leute abgeben müssen, die mehr Chancen haben, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen. Noch werden die Konservativen unter ihnen von manchen gleichgesinnten Parteistrategen protegiert. Aber auch deren Zeit ist wohl bemessen. 8DONNERSTAG, 23.4.87