I N T E R V I E W Das konventionelle Kräfteverhältnis in Europa ist ausgeglichen

■ Christian Krause, Brigadegeneral der Bundeswehr a.D. und Sicherheitsberater der Friedrich–Ebert–Stiftung, zur angeblichen konventionellen Übermacht des Warschauer Pakts

taz: Seit der sowjetische Parteichef Gorbatschow der NATO ein atomares Abrüstungsangebot nach dem anderen unterbreitet, wird wieder eine „überwältigende Überlegenheit“ des Warschauer Pakts an die Wand gemalt. Sie sagen das Gegenteil Krause: Die NATO spielt ganz bewußt diese angebliche konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes hoch, um ihren atomaren Status zu erhalten. Alle Zahlen, die von NATO–Seite in der Öffentlichkeit genannt werden, sind manipuliert. Es läßt sich leicht nachweisen, daß die NATO bei den Wiener Verhandlungen über Truppenreduzierung mit anderen Zahlen arbeitet als in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Ein Beispiel: Im NATO–Streitkräftevergleich von 1984, der für die eigene Öffentlichkeit bestimmt war, wurde die Stärke des Warschauer Pakts mit 4 Millionen Soldaten, die der NATO mit 2,6 Millionen Soldaten angegeben. In Wien präsentierte die NATO folgende Zahlen: Dem Warschauer Pakt wurden dort 935.000 Soldaten zugerechnet, der NATO 792.000. In Wien mußte der Westen Farbe bekennen: Dort sind Zählkriterien vereinbart worden, die - soweit das überhaupt möglich ist - Vergleiche einigermaßen realistisch machen. Aber wie kommt der Kräftevergleich zustande, der im Zusammenhang mit der „Null–Lösung“ veröffentlicht wird? Die NATO spricht von einer angeblichen Überlegenheit im Verhältnis 3:1 - allerdings erst seit den Abrüstungsangeboten von Gorbatschow. Bisher sind die Personalstärken immer mitgezählt worden. In einem neuen Positionspapier des Verteidigungsministeriums für die Wiener Verhandlungen spielen die Personalstärken keine Rolle mehr. Da werden nur noch Divisionen und Waffen verglichen und eine Überlegenheit im Verhältnis 3:1 behauptet. Das kann gar nicht stimmen, weil der Warschauer Pakt mit einer nur geringfügig höheren Zahl an Soldaten nicht das dreifache an Waffen und Divisionen in Bewegung setzen kann. Es ist unmöglich, daß ein Pilot gleichzeitig drei Flugzeuge fliegt. Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Genauso irreführend ist der Vergleich zwischen Divisionen: Wenn aus ungefähr gleich vielen Soldaten im Osten mehr Divisionen gebildet werden, sind die Divisionen dort kleiner und haben weniger Kampfkraft. Die Artillerie ist ein weiteres Beispiel: Die NATO rechnet auf östlicher Seite alle Mörser ab 1O cm Kaliber zur Artillerie. Bei der NATO sind das Infanteriewaffen. Am Ende kommt für den Warschauer Pakt eine Unmenge an Artilleriesystemen zusammen. Beispiele dieser Art ließen sich fortsetzen. Dann besteht also ein „Gleichgewicht“? Das Internationale Institut für Strate und nicht nur die in der BRD stationierten Soldaten (etwas weniger als 50.000). Die ganze übrige französische Armee, die direkt hinter der deutschen Grenze steht, wird ignoriert. Bis de Gaulle 1966 aus der militärischen Integration der NATO austrat, war die NATO dem Osten konventionell überlegen. Dann kippte das um, weil die NATO die Franzosen nicht mehr mitzählte, obwohl sie weiterhin da waren. Wenn man die qualitative Seite der Rüstung betrachtet, ist die NATO ohnehin überlegen. Auch hierfür ein Beispiel: Das NATO–Kampfflugzeug F–111 hat für Waffen, Elektronik etc. eine Zuladung von 37 Tonnen. Das entsprechende Gegenstück, das sowjetische „Backfire“–Kampfflugzeug, hat eine Zuladung von 17 Tonnen. Den technischen Vorsprung der NATO können die Sowjets nicht aufholen. Im Endeffekt ist also die NATO zahlenmäßig gleich und technisch überlegen. Das Zurechtrücken dieser Fakten ist sicherlich eine wichtige Sache. Aber was fehlt, ist eine politische Diskussion um die angebliche Angriffslust der Sowjetunion auf Westeuropa. Das ist noch immer unpopulär. Denken Sie an Herbert Wehner, der einst gesagt hat, die Sowjetunion habe eine defensive Rüstung. Wehner ist so scharf angegriffen worden, daß er diesen Satz nicht wiederholt hat. Ich habe bisher wenig Hoffnung für eine Neuordnung der Militärpotentiale in Europa gehabt. In den Abrüstungsangeboten Gorbatschows sehe ich neue Chancen. Der Westen muß diese Gelegenheit nutzen, sonst ist „der Mantel Gottes“ eines Tages vorbeigerauscht, wie man so schön sagt. Und wir machen uns bittere Vorwürfe, daß wir nicht zugegriffen haben. Interview: Ursel Sieber