Gorbatschows Sprengsatz an der NATO

■ taz–Korrespondenten berichten über die Irritationen in den wichtigsten NATO–Hauptstädten

Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß politische Ideen mehr ausrichten als Raketen - Gorbatschow hat ihn nun geliefert. Nie seit ihrer Gründung war die NATO derart verunsichert wie seit den „revolutionären“ Vorschlägen des neuen sowjetischen Parteichefs. Was Tausende von Raketen nie bewirkt hätten, wird nun in Ansätzen sichtbar: Die ideologischen Fundamente wackeln.

Die Diskussion innerhalb der Bundesregierung zum Thema „Null–Lösung“ bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite (500–1.000 km Reichweite) wird immer absurder. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, Gottwald, wies gestern gegenüber der taz darauf hin, daß die 72 in der BRD stationierten Pershing IA (Reichweite 750 km) von der Sowjetunion als „Drittstaaten–Systeme“ behandelt würden und deshalb gar nicht zur Disposition stünden. „Die Pershing IA–Raketen sind nicht Bestandteil der neuen sowjetischen Vorschläge“, sagte Gottwald. Er erklärte dies mit der „Doppelfunktion“ dieser Atomraketen: Die Trägerstyeme gehören der Bundeswehr, nur die atomaren Sprengköpfe der US–Armee. Die 72 Pershing IA–Raketen der Bundeswehr würden demnach nicht zu den Atomwaffen zählen, die bei einem Abkommen über Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite verschrottet werden müßten. Folglich hat die UdSSR angeboten, die 130–SS 12/mod–Raketen (Reichweite 900 km), die sie nach NATO–Angaben aufgestellt hat, ohne die üblichen „Gegenleistungen“ zu verschrotten. Obwohl die Version des Auswärtigen Amtes vom Verteidigungsministerium bestätigt wird, polemisiert die CDU/CSU weiterhin gegen die Einseitige Abrüstung der UdSSR. Selbst der dem aufgeschlossenen CDU–Flügel zugehörige Politiker Volker Rühe hat sich vor seiner Abreise in die USA deutlich gegen eine „Null–Lösung“ im Bereich der Atomwaffen dieser Reichweite geäußert. Auch FDP– Minister Genscher hat von Rühe für seine vorsichtige Empfehlung eins auf die Mütze bekommen: Der Westen, so Genscher, solle das sowjetische Angebot zu einer Null–Lösung auch für Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweiten nicht „voreilig“ ablehnen. Rühe warf Genscher daraufhin vor, Nebenaußenpolitik zu betrei ben, und von den „innerhalb der Bundesregierung vereinbarten Grundsätzen“ abgewichen zu sein. Wörtlich sagte Rühe: „Es liegt nicht im deutschen Sicherheitsinteresse, weitere Null–Lösungen zu vereinbaren, solange nicht im konventionellen Bereich die dreifache Überlegenheit des Ostens abgebaut ist.“ Alle CDU– Politiker, die sich bisher geäußert haben, fordern die Festlegung „gleicher Obergrenzen“: Demnach müßte vereinbart werden, auf welche Anzahl der Westen „nachrüsten“ könnte. Paris hofft Auch in Paris wartet man bislang vergeblich auf eine erste offizielle Regierungsäußerung zu den sowjetischen Vorschlägen. Sicherlich können sich die Pariser Regierenden einige Zeit für ihre Überlegungen gönnen, hat sich doch der „Gorbatschow–Effekt“ in der Bevölkerung und in den Medien in Frankreich weit weniger breit gemacht als beispielsweise in der Bundesrepublik. Dennoch weiß man, wieviel für die französische Militärstrategie heute auf dem Spiel steht. Ein Schreckensgespenst malen die Verteidigungspolitiker fast aller Parteien inzwischen an die Wand: Es ist die „Entnuklearisierung“ Europas. Dieser Gedanke Gorbatchows wird, wenn er erst einmal Wurzeln fast, über kurz oder lang auch die französische Atomstreitmacht nicht verschonen, fürchtet die französiche Regierung. Natürlich ist man sich einig, Mitterrand inclusive, daß das Heiligtum der „force de frappe“ nicht angerührt werden darf. Im Gegenteil: Damit rechnend, daß mit Kohl und Thatcher bis 1991 zwei verläßliche Partner in der BRD und Großbritannien an der Macht sind, hat man in Paris die große Hoffnung geschöpft, in den nächsten Jahren mit einem westeuropäischen Verteidigungsbündnis um die „force de frappe“ endlich Ernst machen zu können. Diesem Vorhaben stehen nun aus Pariser Sicht gar nicht so sehr die eigentlichen sowjetischen Abrüstungsvorschläge entgegen, vielmehr hat man Angst, daß der wichtigste potentielle Partner - die Bundesrepublik - der Verführung des Michail Gorbatchow erliegt. Schon macht man sich Sorgen, was mit der BRD und der DDR geschehen könnte, falls er nun auch mit der konventionellen Abrüstung ernst macht. London mauert In London bewegt sich öffentlich dagegen kaum etwas. Wer geglaubt hatte, die eskalierenden Abrüstungsvorschläge Michail Gorbatschows könnten die konservative Regierung zu einer positiven Reaktion zwingen, der sieht sich in diesen Tagen auf das Ärgste getäuscht. Frau Thatcher betont im sowjetischen Fernsehen die Notwendigkeit von Atomwaffen; ist heilfroh, daß die unabhängige, atomare Verteidigungsstreitmacht Großbritanniens gar nicht Verhandlungsgegenstand ist. Hinter den Kulissen aber scheinen Regierung und Militärs längst erkannt zu haben, woher die atlantischen Winde in diesen Zeiten wehen. Die Horrorvorstellung eines amerikanischen Teilrückzugs vor Augen, hat sich das britische „Verteidigungs“–Denken in den letzten Monaten über den Ärmelkanal hin zum sonst wenig geliebten Nachbar Frankreich orientiert. Eine atomare Streitmacht, die beiden Nationen um jeden Preis verteidigen wollen, verbindet offenbar. Gespräche über einen anglo–französischen Marschflugkörper, der den Tornado–Kampfflugzeugen untergeschnallt werden soll - so sickerte in dieser Woche durch - befinden sich bereits in einem relativ fortgeschrittenen Stadium. Der „Schock von Reykjavik“ scheint die von den oppositionellen Sozialdemokraten schon lange geforderte Zusammenarbeit mit der neuentdeckten atomaren Brudernation nun auch für die Regierung attraktiver zu machen. Ursel Sieber (Bonn)/Georg Blume (Paris)/Rolf Paasch (London)