Die alte Ohnmacht

■ Zum Jahrestag von Tschernobyl

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war der folgenschwerste Industrieunfall in der Menschheitsgeschichte. Das ist allgemeiner Bewußtseinsstand. Er hat 525 Millionen Menschen in Europa mit radioaktivem Fallout berieselt, und er wird sie auch in den nächsten 100 Jahren erhöhter Strahlung aussetzen. 1.000, 10.000, vielleicht 500.000 Menschen werden als Spätfolge an Krebs krepieren, die Kosten des Unfalls werden auf zehn bis 20 Milliarden Mark geschätzt. Die Atomenergie ist für ewige Zeiten unwirtschaftlich geworden. Die Bürgerinitiativen von Wyhl bis Brokdorf haben dieses Szenario in Flugblättern millionenfach beschworen, in Hunderten von Büchern beschrieben, auf Tausende Transparente gepinselt. Sie haben mit allem recht behalten. Und dennoch: Ein Jahr „danach“ muß die neu erwachte Protestbewegung gegen alte Ohnmachtsgefühle ankämpfen. Sie sieht sich mit einem vermeintlich unverrückbaren Atomkurs der Regierenden konfrontiert und vor allem: mit scheinbar stoisch stillhaltenden Untertanen. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ hat sich der denkende Teil der Bevölkerung nach den erschütternden Meldungen aus der Ukraine gefragt und auf die ersehnte große Wende gehofft. Sie kam nicht. Stattdessen kam der Umweltminister, es kamen die von der eigenen Bewegung denunzierten Eltern– und Verbrauchergruppen (Becquerellis), es kam die verpaßte Legitimationskrise der Atomindustrie und der politischen Instanzen. Achtzig Prozent der Bürger/innen dieses Landes lehnen den weiteren Ausbau der Atomenergie ab. Kein vernünftiger Mensch von Passau bis Husum lebt heute ohne das mulmige Gefühl der Wiederholbarkeit des Schrecklichen, und immer mehr kritische Geister sehen in der Strahlenschutz–Reaktorsicherheits–Umweltminister–Gang nichts anderes als eine von der Atommafia durchsetzte Fälscherbande. Die Bevölkerung hat die Lektion begriffen, aber sie hat sie nicht umgesetzt. Es fehlte die Übersetzung zwischen der „katastrophalen“ Stimmungslage und konkreten politischen Schritten. Die Einsicht, daß das Ende der Atomkraft auch der Schritt in eine neue Gesellschaft wäre, erschien zu bedrohlich, um sie nachzuvollziehen. So blieben die Grünen zwar die glaubwürdigste Anti–Atom–Partei, aber durch ihren linken „Ballast“ dennoch unwählbar. Das Ressentiment gegen links war stärker als die eigene Angst, und so blieb am Ende nur die kollektive Verdrängung. Ist die Angst vor der Veränderung also stärker als die Angst vor dem Tod? Inzwischen schwelt die Hoffnung auf kommende „maßvolle“ Katastrophen, die uns politische Korrekturen noch gestatten, weiter. Doch das Arrangement mit der Katastrophe ist ebenfalls ein Effekt von Tschernobyl. Gemütlichkeit trotz Super–GAU. Für die Atomgemeinde war Tschernobyl ein Beweis für die Hantierbarkeit des Allerschlimmsten, das auch politisch durchzustehen war. Für die Neuauflage liegt die gaugerechte Strahlenschutzverordnung schon in den Schubladen. Die „Chance“, daß es zu dieser Neuauflage kommt, ist mindestens um den Faktor 100 größer als ein Sechser im Lotto. Und an den glauben Millionen. Manfred Kriener