Jeden Tag eine böse Tat

Tschernobyl hat bei manchen den Alltag und das Politikverständnis verändert / Wie wir uns selbst Hoffnung machen können / Heute ist der Streik– und Verweigerungstag der Frauen  ■ Foto: Sabine Sauer

Erstens, was ich sage, ist nicht neu. Zweitens, was ich sage, haben schon viele gesagt und getan. Das finde ich gut. Denn ich habe keine Hoffnung, wenn ich alleine bin. Drittens, seit wir seit Tschernobyl keine Hoffnung mehr haben, müssen wir uns selbst die Hoffnung neu machen! Für die Männer meiner Sippe, zwischen reaktionär–katholisch und computer–fortschrittlich angesiedelt, war es, glaube ich, ein Schlag, als ich im Frieden der Weihnachtsfeierlichkeiten mitteilte, ich hätte mein Auto abgeschafft. Drei Tage lang versuchte mein Onkel, strikter Gewerkschaftsgegner, in meinem Herzen ein Flämmchen Mitleid für die armen Automobilarbeiter zu entzünden, und zog dann resigniert von dannen. Im Unterschied zu früheren Zeiten, wo ich komplizierte Begründungsketten mit viel Wissen auftürmen mußte, um zu erläutern, warum mein Kopf anders denkt als der des jeweiligen Gegenübers, und wo ich immer mal wieder irgendein Detail nicht gegenwärtig hatte, um meiner Argumentation die nötige Vollendung zu verleihen, war die Sache diesmal relativ einfach. Ich sagte: „Es stinkt mir! Warum, das ist in diesem Kreis ja bekannt. Das Berliner Verkehrsnetz bietet mir hinreichend Bewegungsmöglichkeiten. Ich genieße es, im Bus und in der U–Bahn mal vor mich hinzuträumen. Ich brauche nicht mehr so viel Gymnastik zu machen, weil ich mehr laufe.“ „Wenn du meinst“, so sagte ich zu meinem Onkel, „es verantworten zu können, mit deinem Benzin fressenden Jaguar durch die Gegend zu rauschen, ja, dann kann ich auch nichts dran ändern.“ Meine Mutter teilte mir vorige Woche mit, ihr Bruder, also mein Onkel, habe ihr am Telefon erzählt, daß das Zugfahren doch eigentlich viel angenehmer als das Autofahren sei. Weihnachtsfrieden, Friedensbruch, Hausfriedensbruch: das ist doch alles Hausfriedensbruch, was die heute machen. So bezeichnete es eine der Frauen, die sich auf Aktionen zum Jahrestag Tschernobyl vorbereiteten. In der Tat, die wunderschöne Auf–, Ein– und Unterteilung, die das Glück und die Menschlichkeit in das bürgerliche Zeitalter hinüberzuretten suchte, zerbröselt so vor sich hin. Ich zitiere zur Erinnerung Lorenz von Stein, die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonomie, 1886: „Schauen Sie sich das Leben der tätigen, arbeitenden Menschheit an, so hat eine höhere schöpferische Kraft eine Linie in demselben gezogen, welche zwei wesentliche Dinge tiefer scheidet als die Meere der Welt die Teile derselben. Diese Linie bildet die Schwelle des Hauses... immer liegen diesseits und jenseits der Schwelle zwei wesentlich verschiedene Ordnungen des Daseins, zwei Seiten des selben Bildes, die sich ewig berühren und ersetzen, und doch niemals vermengen. An der Schwelle dieses Hauses aber steht die Frau. Ich weiß wohl, was ich dort von ihr erwarte; ich weiß, daß ihre weiche Hand die Stirn glättet und ihre freundlichen Worte wie frische Tautropfen auf die Mühen des Tages fallen. Ich weiß, daß ich meine Sorgen nicht hinüberzutragen brauche in dieses Reich meiner Lieben, und daß die Arbeit an mich kein Recht mehr hat, wenn ich jene Grenze überschreite.“ Nun ja, wir wissen, ganz so war das natürlich nie. Aber das war ein Bild, nach dem die Wirklichkeit erkannt, interpretiert und einzurichten versucht wurde. Nicht nur von den Männernm, auch von vielen Frauen. Übrigens: Meine Weihnachtsszene gleich zu Beginn, die war im Detail auch nicht ganz genau so. Das war auch ein Bild. Die Frage ist: Welche Bilder machen wir uns, nach denen wir die Wirklichkeit erkennen, interpretieren und einzurichten versuchen? Und das Wort Hausfriedensbruch ist ein gutes Wort zur Erkenntnis dessen, was ist und was wir zu tun in der Lage sind, wir Frauen als Geschlecht, jetzt und heute, wenn wir wollen. Anderes können wir auch. Aber davon spreche ich heute nicht. Denn da ist keine Schwelle mehr, die Welten auseinandertrennt. Wenn ich morgens dusche, denke ich an Stromverbrauch, Luftverschmutzung, Tschernobyl und nachdem ich mir das Rauchen abgewöhnt hatte, ist auch die Sache mit dem Duschen nicht mehr so dringlich. Wenn ich frühstücke: Wieviele Becquerels sind wieder in der Milch? Hast du auch geguckt, ob die Äpfel, die du dir da in die Milch schneidest, nicht aus Südafrika sind? Und dann erst der Kaffee. Schließlich kenne ich den Weltmarkt und die Kaffeepreise, weiß, wer ihn anbaut, pflückt, zu welchen Löhnen und wieviel tropischer Regenwald dabei wieder zerstört worden ist, damit wir so billig unseren Kaffee kriegen. Der Kaffee. Meine Mutter zum Beispiel wird zunehmend politisch. Neulich hat sie sich mit ein paar Frauen angelegt wegen der Kaffeepreise. Die fanden es gut, daß sie gesunken sind. Meine Mutter fand es schlecht. Alle waren am Ende nachdenklich geworden. Freust du dich über den billigen Kaffeepreis oder nicht? Das ist eine eminent politische Frage. Daran scheiden sich heute die Welten. Was sagen die alten vorwissenschaftlichen Weltanschauungen, die in 300 Jahren Hexenverbrennungen und mit der Eroberung der Köpfe durch die modernen Natur–, Staats– und Sozialwissenschaften entschwunden und uns genommen worden sind, deren Wahrheiten von der modernen Wissenschaft als Blödsinn eingestuft wurden? Es gibt einen lebendigen Zusammenhang. Im Mikrokosmos ist der Makrokosmos enthalten. In der Tat. In meinem Alltag, meinem ganz individuellen, alltäglichen, gewöhnlichen, privaten und auch öffentlich–lohnarbeitenden Alltag ist die Welt enthalten. Und was heißt das? Ohne die Veränderung dieses Alltags ist auch keine Veränderung der Welt möglich. Laßt uns also die Trennungen, Abspaltungen, die Kästen, die toten Ordnungen aufsprengen, aufkündigen! Laßt uns leben und lebendig und auf diese Weise politisch sein! Laßt uns vernünftig, arbeitsam, reflektierend, wissend, erkennend, empfindsam, handelnd in all diesem Alltag sein, oder, wie gesagt: Jeden Tag eine böse Tat! Eine böse Tat? „Euer Aufruf zu einem Streik– und Verweigerungstag der Frauen ein Jahr nach Tschernobyl, der ist doch einfach lächerlich. Wenn ich das schon höre, Verweigerung. Was wollt ihr denn verweigern? Wen wollt ihr denn treffen, wenn ihr nicht mit euren Männern, Liebsten, Freunden schlaft? Etwa die Atomindustrie? Das ist doch peinlich. Da muß man doch ganz anders rangehen, Streik, da muß es große massenhafte Streiks geben, große, massenhafte Demonstrationen. Frauen... Verweigerung... peinlich... lächerlich.“ Solche Ausbrüche kommen auch von Frauen, die täglich genau das tun, was zumindest mir vorschwebte, als wir unseren Aufruf verfaßten. Ihr Alltag ist politisch, und das machen sie zudem auch noch öffentlich. Sie überstehen unnachgiebig das Gemecker der Kinder und das lange Gesicht des Ehemannes, weil es schon wieder kein Fleisch gibt. Sie setzen ihm auseinander, daß das Fleisch–Essen für sie durchaus eine Frage des Zusammenlebens sei, daß sie das nicht mehr kochen und essen können, wenn sie an die gequälten Tiere denken und die Verfütterung der Getreideernten der Welt. Sie kämpfen täglich den Kampf mit den Kindern gegen die viele Fernseherei. Nach Tschernobyl schütten sie das schöne Eis, das Papa mit nach Hause gebracht hat, vor seinen Augen ins Klo, damit er sich das auch merkt. Sie stellen die Nahrungsfrage in der Elternversammlung zur Diskussion. Und was ist denn mutiger? Am Bauzaun von Wackersdorf Tränengas–Augen zu riskieren oder sich in der Schule zu isolieren, wenn es darum geht, was kriegen die Kinder zum Frühstück mit: „Aber ich bitte Sie, das bißchen Gift in der Wurst, das macht doch nichts. Das bißchen Radioaktivität in der Schokolade, das hält mein Kind doch problemlos aus. Das bißchen Stromvergeudung in der Coladose, darauf kommt es doch auch nicht an. Das bißchen cooler Mord im Fernsehkrimi abends, da können meine Kinder prima nach schlafen. Wir lassen uns das von Ihnen nicht verderben. Seien Sie doch still. Halten Sie doch Ihren Mund, seien Sie doch nicht so hysterisch!“ Oder die linke Variation des gleichen Themas: „Aber eine Meßstation anschaffen, das ist doch unpolitisch. Messen, ja, warum wollen denn die Frauen jetzt plötzlich messen? Da bestätigen die doch nur noch mal die moderne Naturwissenschaft. Und messen, das stört doch den Staat nicht. Und das ist doch so und so alles verseucht, und davor kannst du dich nicht schützen. Und die Arbeiter brauchen das Fernsehen abends, weil das Kapital sie tagsüber so müde macht, und ich brauche das auch, weil ich doch informiert sein muß, was die Leute sehen. Und mit dem Auto muß ich auch zur Arbeit fahren, weil es Quatsch ist, individuell das Auto abzuschaffen.“ Ich zitiere noch einmal aus der Gründungsphase der neuen Wissenschaft, ihrem Kampf gegen das Alte: „Wenn aber die Welt lebt, folgert man weiter, so hat sie auch eine Seele... Von diesem Fundament geht die Einbildung und der Irrtum weiter.“ Sie behaupten, „was an irgendeinem Ort der Erde geschähe, werde überall empfunden, einzig und allein durch den lebendigen Zusammenhang des Ganzen. Die Welt von diesem magischen Unsinn zu befreien, ist wahrlich eine Herkules–Arbeit und dem Ausmisten des Stalls des Augias nicht unähnlich“ (einer der Väter der modernen Wissenschaft und Technik). Der Ausmistung war anscheinend durchschlagender Erfolg beschert. Egal, ob einer heute Politik oder Technik macht, immer geht er davon aus, daß ein lebendiger Zusammenhang des Ganzen mitnichten existiere. Große Teile von Wählern und Wählerinnen der Grünen und auch solchen der SPD verlangen vom Staat - und der ist was ganz anderes als sie selbst -, daß der die Luftvergiftung abschafft und ein natursanftes Energie– und Verkehrssystem errichtet. Aber solange der Staat das nicht macht, leben sie weiter wie gehabt. Der Staat, das ist der Feind. Die Leute, die CDU wählen, die sind so blöd, die sind an allem schuld. Ich, nein, ich doch nicht. Ich brauche das halt alles: jeden Morgen meine warme Dusche, mein Auto, mein täglich Fleisch etc. Kurz und gut: Hier bin ich, und da ist der Staat und die Politik, und wenn ich was ändern will, dann gehe ich zur Wahl, in eine Partei, mache dort lange Forderungskataloge, überlege mir, mit wem ich koalieren könnte, gehe auf eine Demonstration, wo ich dem jungen Polizisten als Repräsentant der Staatsgewalt Auge um Auge, Zahn um Zahn gegenüberstehe, mutig, tapfer: ich mit meiner Idee vom sanften Umgang mit der Natur im Kopf. Und der mit seiner Idee vom Staatsgehorsam im Kopf. Und da rennen wir zwei uns die Köpfe ein. Und das ist dann auf jeden Fall politisch. Ich und der Staat, ja, das wollen wir doch alles mal fein säuberlich voneinander trennen, dazwischen gibt es keinen lebendigen Zusammenhang. Und bei mir selbst, da gibt es erst recht einen solchen Zusammenhang nicht. Mein Kopf ist für die Idee, sanft mit der Natur umzugehen. Und er ist gegen Tschernobyl, aber meine Natur, mein Körper, das ist doch was ganz anderes. Den vergesse ich glattweg beim sanften Umgang mit der Natur. Ohne weiter nachzudenken, sage ich dem, du mußt das Gift halt fressen, werd mal nicht hysterisch. Und dabei bin ich dann auch noch solidarisch mit den Arbeitslosen, die bei Aldi einkaufen müssen. Diese Mütter, nichts haben sie getan, als sich die Kinder in Bhopal vergifteten, und jetzt, jetzt wollen sie, daß ihre eigenen Kinder nicht vergiftet werden, das ist egoistisch, da sieht man es wieder. Frauen sind halt nicht zur Politik fähig, Frauen, was sage ich, Mütter, Mütterlichkeit, neue Mütterlichkeit, das ist doch so und so alles CDU, das ist doch gefährlich, das ist doch reaktionär, und der Hitler, der sprach doch auch von den Müttern, und du auch! Jeden Tag eine böse Tat! Überlege dir bei allem, was du tust: Wen will ich nähren, wem entziehe ich die Nahrung? Von wem will ich Nahrung, von wem nicht mehr? Und welche Nahrung will ich, welche nicht? Will ich IBM oder Nixdorf oder Sandoz was zu verdienen geben, oder will ich durch meinen Erwerb von Lebensmitteln denen Lebens– und Produktionsmittel ermöglichen, die sich um die Gesundung der Böden kümmern? Führe ich die Auseinandersetzung mit dem Homo ludens - sprich Lebensgefährten - an meiner Seite über die Anschaffung eines PC - „nur über meine Leiche“ - oder ist mir das zu mühsam? Fällt beim Vater der Kinder aufgrund meiner penetranten Unnachgiebigkeit endlich der Groschen, daß es halt mehr Arbeit kostet, wenn wir Lebensmittel statt Todesmittel essen wollen, daß er davon gefälligst seinen Teil zu übernehmen hat und daß das politischer ist als abends am Fernseher Zeit und Kraft damit zu verbringen, sich über die Bonner Clique aufzuregen? Nehme ich es in Kauf, lächerlich zu sein, als hysterisch zu gelten in den Augen derer, die noch nichts begriffen haben, oder verletzt mich das, kann ich das nicht ertragen? Passe ich mich an? Lasse ich meine Wut über die radioaktive Verseuchung der Milch und daß das nicht gekennzeichnet ist, bei der gehetzten Verkäuferin an der Kasse aus oder bitte ich den Herrn Verkaufsleiter ins Gespräch? Wen will ich stärken, wen schwächen? Schließlich bin ich noch da, ich lebe, habe insofern Kräfte, bin ein soziales Wesen, auch andere möchten von mir mit Freundlichkeit angeschaut werden: Ich habe also Power. Und: Wie kann ich denn überhaupt noch Hoffnung haben angesichts dessen, was geschieht, den Atomkraftwerken, der Atommafia, der Gentechnologie, der Waffen, der Gifte... wenn ich nicht täglich an mir selbst erfahre, daß es diese Hoffnung gibt? Wie kann ich glauben, daß etwas zu ändern ist, wenn ich selbst nichts zu ändern in der Lage bin? Woher bekomme ich denn meine Kräfte, meine Energie? Doch nicht von der BEWAG, sondern zunächst von mir selbst! Ich gestehe zu, ohne die BEWAG geht es bei mir zur Zeit auch nicht. Aber die Devise müßte doch sein: Minimierung der BEWAG–Energie, Maximierung meiner eigenen! Woraus nähren sich denn die Herren, die das Zerstörungswerk betreiben, inzwischen selber eher Getriebene!? - Zunächst sind das ja auch Menschen, in der Regel Männer. Die werden von ihren Frauen genährt, immer noch! Warum tun diese Frauen das denn noch? Gibt es bei ihnen keine Chance auf Einsicht? - Die Herren nähren sich aus unserer Resignation: Du kannst ja doch nichts machen, es ist doch eh alles vergiftet! - Sie nähren sich aus unserer Unfähigkeit zu sozialen Beziehungen: daraus, daß wir die Verkäuferin an der Kasse eben auch nur als Verkäuferin ansehen, daß wir die Fremdheit akzeptieren, mit der wir allenthalben aneinander vorbeigehen. - Sie nähren sich daraus, daß unser eigener Maßstab von Vernunft immer noch das Geld ist. Und nicht die Lebensmittel. Deutlicher gesagt, daß wir lieber billiges Gift als teurere Lebensmittel kaufen. - Sie nähren sich aus unserer Bequemlichkeit, aus der Mißachtung, aus der Nichtbeachtung, aus der mangelnden Pflege unserer eigenen Lebenskräfte, der Kräfte unseres Körpers, unseres Muts, unserer Vernunft etc. - Sie nähren sich aus unserem Schuldbewußtsein, mit dem sie immer noch in uns verankert sind, wenn wir was gegen die institutionellen, wissenschaftlichen und sonstigen Anstandsnormen, die Regeln und Gesetze tun wollen. - Sie nähren sich aus denjenigen unserer Handlungsweisen, die den falsch gewordenen Begriffen von politisch - privat, kollektiv - individualistisch entspringen. Sie nähren sich daraus, daß wir selbst so ordentlich und säuberlich unsere ganze Lebenswirklichkeit in unterschiedliche Kästen packen. Als ich meiner Freundin, der Biologin, abends in der Kneipe erzählte, daß ich im physikalischen Institut in die sauberen Gänge einige Verunzierungen in Form verschiedenster Aufkleber angebracht hätte, sagte sie freudig grinsend: „Ja, ja, jeden Tag eine böse Tat.“ Das fand ich einen guten Titel für meine Rede. Als Gunhild von der taz das Manuskript auf Veröffentlichung hin las, fragte sie: „Also, ich weiß nicht, der Titel ist schön, aber wo sind denn die bösen Taten?“ Ich sagte: „Nun ja, das kommt halt ganz drauf an, wo man steht.“ Dies ist der (leicht überarbeitete) Vortrag, den Christel Neusüß auf einem Treffen zum heutigen Streik– und Verweigerungstag hielt. Christel Neusüß