Seltene Einheit: Der Generalstreik im Libanon

■ Am Sonntag ging der mehrtägige Ausstand zu Ende / Die Forderungen: Höhere Löhne, feste Schulgelder und Medikamentenpreise / Die Reaktion der Politiker: Sie wollen die Forderungen „ernsthaft prüfen“ / Ministertreffen als „reine Zeitverschwendung“ bezeichnet

Aus Beirut Petra Groll

Mit dem bis Sonntag nacht dauernden Generalstreik hat der seit nunmehr dreizehn Jahren durch Bürgerkrieg zerrüttete Libanon eine Aktion erlebt, die landesweit eingehalten wurde - ungeachtet aller politischen und sozio–kulturellen Widersprüche und Feindseligkeiten. Zwar wurde aus verschiedenen Orten berichtet, daß bewaffnete Gewerkschaftskader in einigen wenigen Fällen beim Schließen von Lebensmittelgeschäften und Restaurants nachgeholfen hätten. Polizei und Sicherheitskräfte verzeichneten jedoch keine bewaffneten Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Ausstand. Der Aufruf zum Generalstreik gegen die ökonomische Krise und die Tatenlosigkeit der zuständigen Politiker war während der Osterfeiertage von der CGTL (Confederation generale des travailleurs du Liban) beschlossen worden. Antoine Bishara, Vorsitzender der Exekutivkomitees des etwas 60 Gliederungen umfassenden Dachverbandes, erklärte zum Ziel des Generalstreiks Lohnerhöhungen im privaten wie öffentlichen Sektor, Kontrolle der Schulgelder und Medikamentenpreise. Ein verschiedene Etappen umfassender Plan zur Reform der libanesischen Wirtschaft soll während ei ner Sitzung der CGTL am 7. Mai verabschiedet werden. Aus einer Studie der CGTL vom März dieses Jahres geht hervor, daß die Lebenshaltungskosten im Libanon innerhalb eines Jahres um durchschnittlich 264 Prozent gestiegen sind. Eine 40prozentige Lohnerhöhung, die Anfang 1987 beschlossen worden war, deckt also diese Steigerung bei weitem nicht ab. Zusätzlichen Anlaß zum Abeitskampf hatte freilich auch eine mehr als 100prozentige Diätenerhöhung der libanesischen Regierungspolitiker im Frühjahr gegeben. Die Landeswährung „Libanesische Lira“ (LL) hat in den vergangenen 15 Monaten 85 Prozent ihres internationalen Wertes verloren und schwankt derzeit zwischen 60–62 LL pro DM (d.h. 1 LL = 0,015 DM). Während bei Ausbruch des Bürgerkrieges vor 13 Jahren ein US–Dollar noch 2,25 LL wert war, wurde Anfang vergangener Woche ein US–Dollar gegen 120,25 LL getauscht. Nach Angaben der CGTL werden 95 Prozent aller Konsumgüter nach Libanon importiert und müssen in harter Währung eingekauft werden. Die galoppierende Inflation hat besonders im Versorgungssektor wiederholt zu Krisensituationen geführt. Verschiedene Male war zum Beispiel kein Brot auf dem libanesischen Markt erhältlich. Die ermittelnden Behörden fanden heraus, daß das im Libanon zum staatlich festgesetzten Niedrigpreis verkaufte Hauptnahrungsmittel in einer in großem Umfang organisierten Schwarzhandelsaktion nach Cypern verschifft wurde. Die Gewerkschaft fordert jetzt die Erhöhung des Mindesteinkommens auf 14.000 bis 15.000 LL monatlich. Bei vier Kindern pro Familie bedeutet das noch immer nicht mehr als 35–37 DM Monatseinkommen pro Kopf. Der tägliche Einkauf für eine Familie mit vier Kindern (eher der untere Durchschnitt) verschlingt indessen zwischen 200–300 LL, ohne daß Milchprodukte, Fleisch, Kaffee oder Tee auf den Tisch kämen. Die Arbeitgeber reagierten mit Entlassungsdrohungen und der Ankündigung neuerlicher Preiserhöhung auf den Generalstreik und erklärten in individuellen Stellungnahmen den Ausstand zur „ungeeigneten Maßnahme“ der Gewerkschaften. „Wir sitzen alle in einem Boot“, heißt auch im Libanon eine beliebte Parole der Geschäftswelt. Die Gewerkschaften kündigten indes weitere Kampfmaßnahmen an, sollten die Politiker des Landes nicht bald mit entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen aufwarten können, um die ökono mische Situation für die libanesische Bevölkerung zu verbessern. In Erwartung ernsthafter politischer Schritte war schon Anfang der vergangenen Woche der Dollarkurs um einige Dezimalpunkte gefallen. Die Ergebnisse eines Treffens von neun der zehn libanesischen Staatsminister am vergangenen Donnerstag, dem ersten Tag des Generalstreiks, versprechen jedoch alles andere als auch nur die Andeutung einer Lösung. Die jeweils fünf moslemischen und christlichen Minister trafen sich - auf der Ost– und Westbeirut trennenden grünen Linie - zum ersten Mal seit dem vergangenen September. Walid Junblatt, Minster für öffentliche Arbeiten und Transporte, Drusenfürst und Chef der „progressiven sozialistischen Partei“, blieb dem Termin gleich fern. Der greise Finanzminister Camille Chamoun, Chef der christlich–maronitischen „Libanesischen Front“, verließ den Ort weit vor Ende des Geschehens aus „gesundheitlichen Gründen“, der sunnitische Regierungschef Rashid Karameh, dessen Rücktritt die christlichen Minister erneut mit großer Vehemenz forderten, verlangte als Vorbedingung seiner Teilnahme eine ausdrückliche Ausklammerung aller politischen Gesprächsthemen. Nabih Berri schließlich, Justizminister, Staatssekretär für den Südlibanon (eine der ärmsten Regionen) und Chef der Schiitenbewegung Amal, erklärte das Treffen von vorneherein zur „reinen Zeitverschwendung“. Tatsächlich kamen die Minister über die Festlegung einer Tagesordnung für ein weiteres Treffen am kommenden Donnerstag nicht hinaus. Sie versprachen anschließend, die Forderungen der Gewerkschaften „ernsthaft zu studieren“, neun äußerst vage formulierte Diskussionspunkte wurden auf die Liste für das nächste Treffen gesetzt. Die offensichtlich hoffnungslos festgefahrene Ausgangssituation läßt sich indes nur aus dem politischen Debakel erklären, das Libanon seit fast eineinhalb Jahren quasi regierungslos gemacht hat. Während sich die moslemischen Oppositionsminister offensichtlich zu einer eisernen Haltung verständigt haben und zu praktisch–politischen Schritten nicht bereit sind, fordern die Minister des christlichen Lagers eine Kabinettssitzung unter Leitung von Staatspräsident Gemayel. Der wird jedoch seit Januar von seinen moslemischen Ministern boykottiert, weil er ein unter syrischer Ägide ausgehandeltes Abkommen zwischen den libanesischen, paramilitärisch organisierten Parteien zur Lösung der Libanon–Krise abgelehnt hatte.