„Da müßte mal ein Tieflader drüberfahren“

■ Unglaubliche Vorkommnisse in einer hessischen Kleinstadt / Ein jüdischer Arzt und seine Familie werden nach Nazi–Art terrorisiert / Sein Haus - für Asylbewerber hergerichtet - brannte ab / Brandstiftung wird nicht ausgeschlossen

Aus Gedern Reinhard Mohr

„Macht, daß Ihr weg kommt! Haut bloß ab! Arbeitsloses Gesindel, Sozialhilfeempfänger!“ Ein etwa 70 Jahre alter Mann schleudert einen Plastikeimer gegen eine Gruppe vorbeiziehender Demonstranten. Drohend geht er mit Kehrschaufel und Besen auf sie zu. Ein paar bleiben stehen und nehmen eine ebenso bestimmte Haltung ein: „Paß bloß auf!“ Es ist Samstagabend in Gedern, einer kleinen Stadt im Vogelsbergkreis in Osthessen. Die Abendsonne scheint noch, die asphaltierte Dorfstraße blitzt vor Sauberkeit. Doch anders als sonst um diese Zeit stehen die Bürger am Straßenrand, in den Hofeinfahrten und an den Fensterbänken. Mehrere hundert Menschen, Fremde, die hier noch niemand gesehen hat, laufen durch die Straßen. Unter ihnen viele Grüne, die direkt von der Landesversammlugn in Gießen nach Gedern gefahren sind. Ein paar Schritte weiter, am Schloßberg, steht ein verkohltes Gebäude, der „Bergwirtshof“. In der Nacht zum Mittwoch vergangener Woche ist das Haus - höchstwahrscheinlich durch Brandstiftung - in Flammen aufgegangen. Es gehört dem Gederner Arzt Dan Kiesel. Er ist Jude. Das Haus ließ er gerade sanieren und umbauen, um daraus eine Unterkunft für Asylbewerber zu machen. In einem anderen Haus in Schotten, das ihm gehört, wohnen bereits asylsuchende Menschen. Vor dem abgebrannten „Bergwirtshof“ sammeln sich nicht nur die auswärtigen Demonstranten, sondern auch einheimische Zuschauer. Die geben sich reichlich empört. Seit der Hessische Rundfunk - nach dem Brand - über „den Fall Gedern“ berichtet hat und „die Zeitungen darüber schreiben“, fühlen sie sich als wehrlose Opfer einer Hetz– und Verleumdungskampagne. „Sie haben doch keine Ahnung, was wollen Sie denn hier?!“ Die Antwort, man wolle gegen das Anstecken eines Hauses protestieren, das einem jüdischen Mitbürger gehört, geht im Geschrei unter. „Ja, wer ist denn der Brandstifter? Waren Sies vielleicht? Oder wars ein Blitzschlag, das kommt hier öfter vor. Oder waren es die vielleicht selbst?“ „Die“, das sind der Arzt Dan Kiesel und seine Lebensgefährtin. Seit 1982, als Kiesel in Gedern seine Praxis eröffnete, werden er, seine Freundin und seine Kinder terrorisiert. SS–Runen wurden auf die Hauswand gemalt, „Auschwitz–Lüge“–Broschüren in den Briefkasten geworfen, telefonisch Morddrohungen übermittelt. Letzter Höhepunkt: Ein ehemaliger Patient klebte einen Davidsstern auf das Fenster zur Hauptstraße. Der Stern hing dort zwei Wochen lang, ohne daß ein Gederner Bürger etwas unternommen hätte. Nicht der Bürgermeister Schwarz (CDU), nicht der katholische Pfarrer, nicht der evangelische Pfarrer und auch kein Sozialdemokrat. Gegen den von Kiesel erkannten Täter, ein ortsansässiger Dachdecker, wird seit einem Vierteljahr ermittelt. Vernommen wurde er jedoch bisher noch nicht. Dafür soll er sich angeblich beim Bürgermeister „entschuldigt“ haben; nicht aber bei Kiesel. Ungewöhnlich ist das nicht in dieser Kleinstadt, in der am hellichten Tag ungestört Nazi–Parolen gesprüht werden können und Hitlers Geburtstag alljährlich in der Disco gefeiert wird. Mit der Begründung, Hitler sei ja schließlich schon tot, lehnen Bürgermeister und Magistrat bis heute die Annullierung der Gederner Ehrenbürgerschaft für Adolf Hitler ab. Tot sind auch jene 200 Gederner Juden, die schon im Jahr 1933 vertrieben wurden. In ihren Häusern wohnen seitdem „arische“ Mitbürger. „Wir haben nichts gegen Juden“, schreit eine ältere Dame dem auswärtigen Schreiber ins Gesicht, „sonst wäre die Praxis vom Doktor Kiesel doch nie so gut besucht gewesen!“ - Aber: „Wir können uns gar nicht wehren gegen das, was die Zeitungen schreiben. Das sind alles Lügen.“ Welche Lügen? „Daß wir alle Nazis sind, Brandstifter.“ Das sagt ja keiner. Aber warum haben sie alle geschwiegen? „Das wird doch jetzt alles nur aufgewirbelt. Und wenn der Kiesel kein Jude wäre... Manche sind eben gleicher. Den Stern hätte er doch selbst abkratzen können.“ Viele Demonstranten, unter ihnen grüne Regierungsdirektoren, Bundes– und Landtagsabgeordnete, fühlen sich wie in einem schlechten Horrorfilm. Einige gebrauchen das Wort „Spießrutenlaufen“. Während ein alter Jude aus Gedern auf der Kundgebung seine Mitbürger bittet, wenigstens jetzt, wenn schon nicht 1933, Solidarität mit einem bedrängten jüdischen Nachbarn zu üben, grölen ein paar Meter weiter „aufrechte“ Deutsche: „Über das ganze Pack müßte mal ein Tieflader drüberfahren.“ Als Dan Kiesel zu sprechen beginnt, lachen einige Zuhörer. Nach wenigen Worten stockt er und weint. Er läßt zunächst andere Redner vor das Mikrofon, bevor er noch einmal beginnt. Er sagt, daß er Gedern verlassen wird, den Ort, an dem er nicht mehr leben kann. Unter Pfiffen und Geschrei sagt ein „alter Jud“ aus Frankfurt: „Sie haben es geschafft. Gedern ist ein zweites Mal judenfrei.“