D O K U M E N T A T I O N „Der Staat als ständige Bedrohung des Menschen“

■ ZEIT–Herausgeberin Gräfin Dönhoff zum Wortbruch nach der Volkszählung 1950 / „Der Staat hat selber alle moralischen Maßstäbe zerbrochen und an ihre Stelle die Polizei gesetzt“

Am 13. September 1950 fand in der westdeutschen Bundesrepublik eine Volkszählung statt. Neben den üblichen Angaben wurden diesmal sehr eingehende Ausführungen über Wohnungsverhältnisse und Gewerbebetriebe gefordert - zu statistischen Zwecken. Zu ausschließlich statistischen Zwecken, so hieß es offiziell! Und so stand es auch im Gesetz (...). Aber das Mißtrauen gegen jegliche Art von Fragebogen und deren Verwendung läßt sich nicht so ohne weiteres zerstreuen. Und so sah sich denn schließlich der Bundespräsident genötigt, persönlich zu versichern, daß weder Polizei noch Wohnungsamt, noch Finanzamt Einblick in die Listen bekämen. Das war im September. Am 4. Oktober aber beschlossen das Innen– und das Finanzministerium in Niedersachsen aus Sparsamkeitsgründen, die Ergebnisse der Volkszählung für den Gewerbeausgleich zu verwenden. Die Gemeinden wurden entsprechend angewiesen, und einige von ihnen folgten dem Erlaß. Auch in Süddeutschland sind Volkszählungslisten von amtlichen Stellen unbefugt eingesehen und für Erhebungen über den Gewerbesteuerausgleich zwischen den Gemeinden ausgewertet worden. Trotz der gesetzlichen Zusicherung, dies werde nicht geschehen, trotz des Wortes, das der Bundespräsident verpfändete. Das Erschütternde an der ganzen Sache aber ist, daß eigentlich niemand sich darüber sonderlich erregt hat. Das Publikum hatte nämlich von vornherein gar nichts anderes erwartet, die zuständigen Minister fanden es lediglich albern, daß man eine offizielle Zusage mehr respektieren solle als ökonomische Gesichtspunkte, und die Kommunalbeamten (...) hatten offenbar nicht einsehen können, warum ausgerechnet sie die Integrität des Staates gegen Minister und Oberbürgermeister verteidigen und sich als unbequeme Untergebene die Chancen für die nächste Beförderung verderben sollten. Wahrhaftig, man könnte kaum einen Fall ersinnen, der charakteristischer wäre für unsere heutige Situation als dieser. Zeigt er doch , daß das moralische Kapital des Staates, das in generationenlanger Kleinarbeit zusammengetragen wurde, restlos aufgezehrt ist. Man hat eben zu lange von der Substanz gelebt. Noch die vorige Generation ist aufgewachsen in der Vorstellung, daß eine „amtliche Erklärung“ den schlechthin höchsten Grad der Zuverlässigkeit darstellt. Heute dagegen ist der erste Gedanke angesichts einer offiziellen Verlautbarung: Das stimmt sicher nicht! Erst wenn sie von anderer offizieller Stelle dementiert wird, ist man geneigt anzunehmen, daß vielleicht doch etwas Richtiges daran war. Wenn man aber wirklich wissen will, was los ist, dann muß man versuchen, jemand zu finden, der von Amts wegen nichts damit zu tun hat... Ja, wer vermag sich jene anderen Zeiten überhaupt noch vorzustellen? Jene Zeit, da der Staat eine unsichtbare Größe war, der man kaum je begegnete, denn Wohnungsämter, Finanzämter, Arbeitsämter und Fragebögen gab es ja noch nicht. Hätte man damals irgendeinen Bürger gefragt, was der Staat eigentlich sei, so hätte er wahrscheinlich geantwortet, der Staat ist die Quelle des Rechts und der Hüter von Ordnung und Sicherheit. Das war vor 1914, am Ende einer langen Friedensperiode, als man noch an den Rechtsstaat glaubte und es für die wichtigste Aufgabe des Staates hielt, die individuelle Freiheit des Menschen zu garantieren. Als dann der Erste Weltkrieg ausbrach und der Staat gewissermaßen aus seiner Reserve als unsichtbarer Regisseur heraustrat und selber zum Akteur wurde, verwandelte er sich nach und nach vom Rechtsstaat in einen Machtstaat. War Gerechtigkeit die Basis des Rechtsstaates, so wurde Disziplin die Grundlage des Machtstaates. Nicht mehr persönliche Freiheit, sondern Autorität wurde das Ideal. Der Machtstaat denkt in Kategorien von Objekten, von Sammelbegriffen wie Armee, Konsumenten, und glaubt nicht mehr an Subjekte, an Individuen. Dank Adolf Hitler sind wir seit 1914 aus der Periode der Weltkriege nie mehr herausgekommnen, denn noch waren die Folgen des Ersten kaum überwunden, als er den Zweiten vorzubereiten begann. Und er tat es mit aller Konsequenz. Der Krieg in Permanenz, der Bürger als ewiger Krieger, das wurde unser Schicksal. Und darum überspitzte Hitler die Theorie, daß der Staat die Summe seiner Bürger sei, und erklärte ihn zum Übermenschen. Nicht eine Organisation sei er, sondern selbst ein Organismus und ergo die einzelnen Menschen nur Zellen, die erst im Staat und durch den Staat einen Sinn bekämen. (...) Gewiß, diese Epoche liegt jetzt hinter uns - aber kann man diese Erfahrungen einfach abstreifen (...)? Wir sehen tagtäglich, wie schwer das ist. Der Staat hat nun einmal seine Autorität verspielt und uns als einziges Erbe die Bürokratie zurückgelassen. Der Staat hat nun einmal selber alle moralischen Maßstäbe zerbrochen und an ihre Stelle die Polizei gesetzt, so daß die Hochachtung vor beiden, (...) die sich anscheinend so leicht gegeneinander auswechseln lassen, einen Knacks bekommen hat. (...) Diese Entwicklung hat mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges keineswegs aufgehört, denn inzwischen sind wir in die Phase der Bürgerkriege, der permanenten Kriegführung an der inneren Front, eingetreten, und wieder regiert das Gesetz des Krieges und der Disziplin die Staaten. Äußerste Disziplin, um die Freiheit zu retten, so lautet die Antithese. Die Regierungen gleichen heute im eigenen Lande gewissermaßen einer Besatzung, die den weltanschaulichen Gegner, den inneren Feind, niederzuhalten bemüht ist. Darum muß der moderne Staat seinem Wesen nach Machtstaat sein, und fast könnte man so weit gehen zu behaupten, daß die Parteien nichts anderes sind als Bürgerkriegsarmeen. Es drängt sich einem dabei die Frage auf, was eigentlich dem einzelnen, sofern er nicht nur Staatsbürger, sondern auch Individuum ist, als Lebensraum noch übrigbleibt. Zweifellos ist der Staat an sich weder gut noch böse, genau wie beispielsweise die moderne Technik an sich weder gut noch böse ist. Der Staat ist vielmehr eine notwendige Organisationsform. Aber wie er beschaffen ist, das hängt von der Frage ab, ob die Bürger ihn beherrschen oder ob er seine Bürger beherrscht. Der moderne Staat als Machtstaat stellt eine ständige Bedrohung des Menschen dar, und darum ist es die Pflicht des heutigen Bürgers, in vieler Hinsicht als Frondeur zu leben und immer und überall dort Opposition zu machen, wo der Staat das Recht verletzt oder sein Wort nicht hält - auch wenn es sich nur um Volkszählungslisten handelt. Marion Gräfin Dönhoff