Westeuropas Verteidigung im Abseits

■ Minister der Westeuropäischen Union drücken sich um klare Stellungnahme zu Gorbatschow–Vorschlägen

Der erste Anlauf zur Formulierung einer eigenständigen Europäischen Position im Clinch der Supermächte scheint gescheitert. Vor allem die Unentschlossenheit der Bundesregierung machte es bei dem gestrigen Treffen der Außen– und Verteidigungsminister der WEU unmöglich, sich auf ein Votum zu einigen. Damit, so die Parlamentarier der Versammlung, verliert der Versuch einer Reaktivierung der Institution als europäischer NATO–Pfeiler erheblich an Glaubwürdigkeit.

„Solange es für die Westeuropäische Union noch keinen Ersatz gibt, müssen wir sie aufs Beste nutzen“, formulierte 1985 der Fraktionsvorsitzende der französischen Sozialisten im Parlament der Westeuropäischen Union (WEU), Lucien Pignion. Da die WEU seit ihrer Gründung im Jahre 1954 ohne Ersatz die einzige gemeinsame Organisation geblieben ist, in der die sieben westeuropäischen Kernländer (Frankreich, Großbritannien, die Beneluxländer und Italien und die Bun desrepublik, die beide 1954 als Mitgliedsstaaten aufgenommen wurden) ihre militärischen Verteidigungstrategien abstimmen können, trafen sich die Außen– und Verteidigungsminister der Mitgliedsländer nun in ihrem Rahmen am gestrigen Dienstag in Luxemburg, um eine einheitliche westeuropäische Position zu den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen zu erarbeiten. Bereits seit Montag tagt in Luxemburg der parlamentarische Rat der WEU, der sich aus Delegationen der Mitgliedsländer zusammensetzt und ebenfalls aktuelle europäische Sicherheitsfragen erörtert. Da die sowjetischen Vorschläge „hauptsächlich die europäische Sicherheit berühren“, will man nun die spezifischen europäischen Interessen neu definieren. Dazu soll eine europäische Sicherheitscharta festgeschrieben werden, die von den Franzosen bereits Ende letzten Jahres lanciert worden war. Einstimmig wurden die Außen– und Verteidigungsminister darüber hinaus aufgefordert, eine einheitliche Position zu den Vorschlägen vorzulegen. Dieses Ziel schien jedoch zur besonderen Enttäuschung der Franzosen bereits am Montag vereitelt, als deutlich wurde, daß Bundeskanzler Kohl noch nicht in der Lage sein würde, den Streit zwischen seinen Ministern Genscher und Wörner hinsichtlich des Abbaus der Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite in Europa bis zum Treffen in Luxemburg beizulegen. So reagierte vor allem der amtierende Präsident der WEU–Par lamentarier–Versammlung, der Franzose Jean–Marie Caro, enttäuscht über die Entschlußunfähigkeit im Ministerrat. „Eine jetzt ausbleibende Entscheidung“, so Caro, „müsse Zweifel an der Aufrichtigkeit der seit zwei Jahren betriebenen Reaktivierung der Organisation wecken.“ Die fehlende Übereinstimmung der sieben Regierungen wirke sich lähmend auf die Arbeit der Versammlung aus. Wenn damit auch der WEU–Ministergipfel an unmittelbar aktuellem Interesse verlor, so geriet auf diese Weise eine andere weitreichende Frage in den Vordergrund der Tagung: Ws soll über die scheinbar nicht mehr rückgängig zu machende Raketenabrüstung der Großmächte hinaus verteidigungspolitisch mit Europa geschehen? Dringender denn je brennt der französischen Regierung diese Frage auf den Nägeln. Sie betont heute zwar, daß man beim Abbau der Mittelstreckenraketen „die Dinge nicht komplizierter machen wolle“ und signalisiert damit eine mögliche Zustimmung zur „Doppel–Nullösung“, die sie bisher unter den Westeuropäern am heftigsten kritisierte, doch geschieht dies nicht ohne die ständige Warnung vor der „Entnuklearisierung Europas“. Um gleich konkret zu werden, hat die französische Regierung deshalb in Luxemburg den Vorschlag von Premierminister Chirac vom Dezember 1986 erneuert, innerhalb der WEU eine „Charta der europäischen Sicherheit“ aufzustellen, die das nukleare Abschreckungsprinzip als Militärstrategie für Westeuropa ein für allemal festnageln will. Mit nur einer Gegenstimme begrüßte am Montag das WEU–Parlament das französische Vorhaben. „Wenn die Mitglieder der Westeuropäischen Union sich auf gemeinsame Prinzipien einigen“,so der französische Außenminister Raimond, „könnten sie sich besser mit den Amerikanern abstimmen.“ In dieser Äußerung liegt erneut die Idee, mit der noch die sozialistische Pariser Regierung 1984 die sogenannte „Wiederbelebung“ der WEU betrieb: die Idee von einem unabhängigen westeuropäischen NATO–Pfeiler. Die derzeitge Hoffnung der französischen Verteidigungpolitiker drückt am besten der Leitartikler des regierungsnahen Figaro aus: „1949 war die Angst vor Stalin der Katalysator, der die Gründung der NATO ermöglichte. Heute kann das Schreckgespenst einer objektiven Komplizenschaft der beiden Großmächte vielleicht einen ähnlichen Reflex bei den Europäern auslösen.“ Kein Zweifel, daß die französischen Außen– und Verteidigungsminister in Luxemburg forderten, die WEU nunmehr aufs Beste zu nützen. Die Chirac–Regierung folgt damit einer politischen Richtung, die die französischen Sozialisten bereits 1954 verfolgten, als ihr Vorhaben der Gründung einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) an den Stimmen von Gaullisten und Kommunisten in der Pariser Nationalversammlung scheiterte. Erst unter Mitterrand wagte man dann in Frankreich wieder, über die ausschließlich nationale gaullistische Verteidigungsdoktrin hinauszugehen. Die Wiederbelebungsversuche der WEU fielen 1984 zusammen mit der französischen Kritik an der US–amerikanischen strategischen Verteidigungsinitiative (SDI), die die Verteidigung der Vereinigten Staaten potentiell von Westeuropa abkoppelt. Darüber hinaus verlangten große Rüstungskonzerne europäische Projekte, die in einem nationalen Rahmen nicht mehr finanzierbar sind, wie beispielsweise den kürzlich vereinbarten Bau eines deutsch– französischen Kampfhubschraubers. Georg Blume (Paris)