„Wir haben ein Recht, hier zu leben“

■ Vergeblich wehren sich die Slumbewohner von Seoul gegen die geplante Kahlschlagsanierung / Zur Olympiade 88 soll das Stadtbild verschönert werden / Brutale Polizeieinsätze / Fette Profite für die Clique an der Macht

Aus Seoul Jürgen Kremb

„Ich weiß nicht mehr ein noch aus“, sagt Kim Chul–Sung. „Meine Frau liegt verletzt im Krankenhaus, die Kinder sind krank, unser Haus ist zerstört und wo unsere Sachen sind...“. Er hält inne und zuckt mit den Schultern“Die hat die Polizei mitgenommen“. Kim Chul–Sungs einzige Bleibe ist seit zwei Wochen ein notdürftig zusammengezimmertes Zelt vor der katholischen Myongdong–Kathedrale in Seoul. Die Kleider, die er am Leibe trägt, sind das einzige, was ihm geblieben ist. Wie Kim geht es auch 75 weiteren Familien, die in zwei grossen Plastikzelten im Zentrum der südkoreanischen Hauptstadt hausen. Sie sind die ersten Opfer einer Sanierungspolitik, die von den Stadtvätern Seouls im Vorolympiafieber ersonnen wurde. Insgesamt sollen in den kommenden 15 Monaten 3,5 Millionen Slumbewohner aus ihren angestammten Quartieren entfernt werden, fast ein Drittel der Bevölkerung Seouls. Zum Beispiel Sangye–Dong Mit Grauen denkt auch der 48jährige Choi Tae Hee aus dem Slum Sangye–Dong an den Terror zurück, dem seine sechsköpfige Familie und die Nachbarn in den letzten beiden Jahren ausgesetzt waren. Es begann damit, daß die Stadtregierung im November 85 ankündigte, Sangye–Dong solle wie auch 242 andere Distrikte von Seoul saniert werden. „Das bedeutet im Klartext, daß die kleinen einstöckigen Häuser abgerissen und stattdessen 15stöckige Wohntürme hingestellt werden“, erklärt dazu der Jesuitenpater Joseph Dehli, der schon seit über 20 Jahren mit den Slumbewohnern der Stadt zusammenarbeitet. Angesichts derartiger Perspektiven begannen 600 Leute aus Sangye–Dong im Februar letzten Jahres, sich gegen den geplanten Kahlschlag zu wehren. „Wir fanden, daß wir ein Recht darauf haben, hier zu leben“, meint Choi, der von einem der ersten Slumkomitees zum Sprecher gewählt wurde. Mittlerweile gibt es in Seoul fast 20 solcher Gruppen von städtischen Armen, die sich gegen die Sanierung wehren. Doch bald mußte Choi erfahren, daß die Behörden der militärgestützten Regierung Südkoreas das ganz anders sahen. Als die Bewohner sich weigerten zu gehen, rückten nacheinander Polizisten, Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung, Vertreter von Baufirmen und bezahlte Gangster an, 18 Mal kam es in den letzten beiden Jahren zu regelrechten Straßenschlachten. „Meist kamen sie morgens um acht mit Planierraupen, und dann ging bis spät in die Nacht ein Regen von Steinen auf uns nieder. Tränengasgranaten wurden abgefeuert, und oft schlugen sie uns windelweich“, berichtet ein Betroffener über die Auseinandersetzungen. Dazu Pater Dehli: „Sangye– Dong ist nur ein Modell dafür, wie sie auch die anderen Siedlungen weichklopfen wollen“. Doch trotz des zähen Widerstandes sind inzwischen fast alle Häuser in Sangye–Dong zerstört. „Das Schlimmste war Weihnachten 86“, erinnert sich Choi. Kardinal Kim wollte eine Messe für uns lesen und wir hatten schon alles vorbereitet. Da kam plötzlich kurz vor dem Fest ein Angriff von bezahlten Gangstern und machten alles kaputt, was wir aufgebaut hatten.“ Die Messe indes wurde trotzdem gelesen: im Freien bei schneidender Kälte. Eines Nachts wurde dann der Strom abgedreht, und wieder stürzte eine Bande junger Männer ins Viertel. „Bringt sie alle um“, riefen die Eindringlinge, kurz darauf wurden die Zelte eingerissen und scharfe Messer landeten knapp über den Köpfen der Schlafenden. Ein Greiftrupp der Polizei besorgte vor zwei Wochen den Rest. Die Bewohner, die immer noch aushielten, wurden in die Flucht geschlagen, ihre Habe auf 80 Lastwagen geladen und abgefahren. Ähnliches spielte sich im Slum von Janpoen Dong ab. Als die Betroffenen daraufhin in der Myongdong–Kathedrale Schutz suchen wollten, lieferte ihnen dort noch einmal die Polizei ein Gefecht mit Tränengas und Knüppeleinsatz, bis sich die Kirche eindeutig hinter die Vertriebenen stellte. Seither kampieren die Familien neben dem Gotteshaus und einigen von ihnen hat Kardinal Kim Su–Hwan sogar schon de monstrativ die Füße gewaschen. Doch ob das viel hilft, ist fraglich. Fette Profite Der Magistrat der Hauptstadt betont, für die Leute aus den geräumten Slumviertel stünden genug neue Ausweichquartiere zur Verfügung. Doch aus der Sicht der Bewohner sind die neuen Wohnungen unerschwinglich. Kosteten ihre kleinen Hütten bisher nur 30.000 Won, so wären für die neuen und größeren Wohnungen inklusive Kaution 160.000 Won monatlich fällig. Die meisten der Familien in den alten Vierteln sind vom Land oder aus den Kleinstädten zugewandert, ein typischer Beruf wie der eines Straßenhändlers bringt monatlich kaum mehr als 100.000 Won (rund 225 DM) ein. Für die Stadtregierung geht es bei dem Sanierungsprogramm dagegen darum, rechtzeitig zur Olympiade 88 das Stadtbild im Sinne des internationalen Publikums zu verschönern und die nach dem Ende des Stadienbaus darniederliegende Bauindustrie mit neuen Aufträgen zu versorgen. Vor allem die Baufirma Hanguk, an der indirekt hohe Regierungsmitglieder und die Frau des Präsidenten beteiligt sind, sahnen dabei groß ab. Eine Milliarde Dollar Gewinn sollen bei den bereits abgeschlossenen Maßnahmen im Moen–Dong–Viertel abgefallen sein und noch mal 30–40 Millionen winken in Sangye–Dong.